Mutterseelenallein

Gunther Geltinger – Moor   Cover: SuhrkampGunther Geltinger erzählt in Moor von den obsessiven Beziehungen einer Mutter und ihres Sohnes: zueinander, zu ihrer Vergangenheit und nicht zuletzt zu der Natur, die alle Register zieht, um dem Menschen seine eigene Nichtigkeit vorzuführen.

von SIMONE SAUER-KRETSCHMER

Auf dem Grund eines finsteren Gewässers lebt eine Libellenlarve, bedroht von einem Rochen, der sie fressen will. Die Larve erlaubt dem Fisch sie zu verschlingen, doch nur unter der Bedingung, zuvor in ein Mädchen verwandelt zu werden. Der Rochen kommt der Forderung der Libellenlarve nach, die fortan als Mensch in seinem Inneren lebt. Doch mit der Zeit wird das Mädchen zu groß für den Bauch des Fisches, der sie an Land ausspeit, allerdings nicht ohne dafür eine folgenreiche Bedingung zu stellen: Nur wenn das Mädchen dem Rochen ihr erstes Kind bringt, sollen Freiheit und ihr Dasein als Mensch von Dauer sein, andernfalls wird der Rochen sie in eine Libelle zurückverwandeln. Das Mädchen wird erwachsen, gebiert einen Sohn, doch kommt sie der Forderung des Rochens nicht nach, und lebt gemeinsam mit ihrem Jungen in einem Haus am Wasser. Die Jahre vergehen, und die unheilvolle Drohung beginnt zu wirken: Nach und nach verwandelt sich der Körper der jungen Frau zurück, und sie weiß, dass es kein Entrinnen gibt. Eine Entscheidung muss getroffen, ein Opfer gebracht werden. Ein Leben gehört dem Fisch, und eines sich selbst. Aber welches? Das der Mutter, oder das des Kindes? Mit diesem Märchen von der Libelle im Rochen beginnt Gunther Geltingers Roman Moor, der eine Geschichte erzählt, in der die Hauptcharaktere ihre Herkunft und Vergangenheit ebenso gern vergessen würden wie die ehemalige Libellenlarve das dunkle Gewässer und den bedrohlichen Rochen. Doch die eigene Mutter, wie Dion lernen muss, bringt man nicht so einfach hinter sich. Sie ist immer da, bis zu ihrem Tod, und sie ist immer falsch: Sie liebt dich zu sehr, sie liebt dich zu wenig, ist zu laut oder zu leise, zu nah oder zu fern.

Jedem die falsche Mutter

Dennoch ist der Fall des dreizehnjährigen Dion, des Stotterers und Libellenexperten, der mit seiner Mutter Marga im norddeutschen Fenndorf lebt, anders, sehr speziell sogar: Dion ist einsam, hat kaum Kontakt zu den anderen Jugendlichen des Ortes, die über seine Mutter hämisch lachen, weil doch sowieso jeder weiß, dass Dion zwar keinen Vater mehr hat, Marga dafür aber umso mehr Männer. Wie Recht sie damit haben, wissen die Kinder womöglich nicht, denn Marga hält ihre Arbeit als käufliche Frau im Hinterzimmer eines Hamburger Modehauses geheim, und will keine Spuren an sich tragen, wenn sie in das stille Haus am Moor zurückkehrt – heim, in die sichere Obhut ihres Kindes. Unterdessen lebt Dion in ständiger Sorge um seine Mutter, die manchmal morgens nicht aufstehen kann, mittags den ‚Allestopf‘ nicht kocht, und abends das Telefon nicht klingeln lässt, nachdem sie ausgegangen ist, um – wie sie vorgibt – ihre Galeristin zu besuchen. Denn in unzähligen Nächten sitzt Marga im angrenzenden Schuppen vor ihren Leinwänden und versucht sich die Bilder, die sie heimsuchen, vom Leib zu schaffen, ohne dass sie dabei auch nur ahnt, warum sie das Malen als Ausdrucksform gewählt hat, denn eine Künstlerin ist sie nicht. Auch Dion, dem das Sprechen nicht nur zusetzt, sondern der zudem leidlich an das Schweigen gewöhnt ist, findet für sich eine andere Art des Nachdenkens und Dokumentierens, indem er ein Tagebuch führt, das zugleich die Krankenakte seiner Mutter ist.

Für sich genommen sind Dion und Marga vor allem eines: einsam und zögerlich, voller Zaudern und Unentschlossenheit, um dann ganz plötzlich und radikal auszubrechen, regelrecht Schluss zu machen mit alten Gewohnheiten und dem Leben in einem Gefängnis, das schon mit Dions Geburt besiegelt war. Doch erst dann, wenn Mutter und Sohn aufeinandertreffen, geschieht etwas, das den Roman zu einer Herausforderung werden und das Denken ins Stocken geraten lässt: Wer sind diese beiden, die sich so vertraut sind, dass Dions Blick auf Margas Lippen ausreicht, um zu wissen, wie es ihr geht? Die sich so nah sind, dass in ihrem Leben nicht ein Spalt breit Platz ist für einen weiteren Menschen, nach dem sie sich dennoch beide maßlos sehnen? Und was geschieht da eigentlich, wenn die Sehnsüchte der Mutter und die Liebe des Sohnes sich nachts unter der Bettdecke treffen?

Moor ist nicht nur ein gewaltiges Buch, sondern auch eines, dessen Brutalität manchmal kaum auszuhalten ist, und das den Leser immer ausgerechnet dann, wenn er die Relationen des Geschehens für sich geordnet zu haben glaubt, aus der Bahn seiner Lektüre wirft, und ihm vor Augen führt, dass die Erinnerungen an die eigene Vergangenheit vor allem eines sind: der Versuch einer Erklärung für die Gegenwart. Auch Jahrzehnte später, längst nicht mehr in Fenndorf und lange Zeit getrennt von Dion, ist es nach wie vor der Wunsch nach Erlösung, der Marga umtreibt, und den ihr die Malerei bis zuletzt versagt.

Erlösung, Freispruch oder gar Versöhnung?

Doch wer sollte sie freisprechen? Dion etwa? Gar der Leser? Oder doch die Natur, die hier ihr Spiel mit den Geschicken der Menschen treibt? Den Menschen, die letztlich doch nichts ausrichten können gegen das Schweigen des Moores und die Verwüstungen des Sturmes, gegen ihre Natur oder das, was mancher Schicksal nennt, und die letztlich vollkommen machtlos erscheinen gegen einen geduldig wartenden Rochen, der einen verlässlichen Verbündeten hat: die Zeit, die gar nichts heilt.

Gunther Geltinger: Moor
Suhrkamp Verlag, 440 Seiten
Preis: 22,95€
ISBN: 978-3-518-42393-6

Ein Gedanke zu „Mutterseelenallein

Hinterlasse einen Kommentar