Ein Regenschirm, den man nicht so leicht vergisst

Will Self_Regenschirm_Cover_Hoffmann und CampeDie Europäische Schlafkrankheit und ihre Symptome erscheinen so grausam wie die Erfindung aus einem Endzeitroman, doch tatsächlich erkrankten während der Pandemie zwischen 1917 und 1927 rund 5 Millionen Menschen daran. Ein Drittel der Erkrankten starb im direkten Zusammenhang mit der Entzündung ihres Gehirns. Bereits 1973 hat Oliver Sacks mit Awakenings ein Buch über diese Kranken und ihren Arzt geschrieben. Wo Sacks den Leser mit Fakten und Fotos absetzt, holt Will Selfs Regenschirm ihn ab – und lässt ihn verstört und nachdenklich zurück.

von ANNA-LENA THIEL

Dr. Zachary Busner und Audrey Death sind die Protagonisten einer Erzählung, um die die Leser kämpfen müssen. Die Handlung von Regenschirm – überschrieben mit dem Joyce’schen Motto „Ein Bruder wird so leicht vergessen wie ein Regenschirm“ – spielt zum größten Teil in der bis 1993 real existierenden psychiatrischen Einrichtung Friern Hospital. Auch hier finden sich vereinzelte Fälle von Überlebenden der Europäischen Schlafkrankheit, obwohl man sie kaum als solche bezeichnen kann: Sie vegetieren in krampfhafter Starre oder zielloser Bewegung, in den meisten Fällen völlig unfähig zur Kommunikation mit der Außenwelt, vor sich hin. Hier begegnen sich Arzt und Patientin, hier verbinden oder besser verheddern sich ihre Geschichten und Gedankenströme.

Audrey Death ist seit 1922 Insassin, wird wie viele andere Patienten weniger behandelt als bloß ruhig gestellt. In einem Zustand somnambuler Trance schlurft sie durch die Gänge der Anstalt, die mit dem längsten Flur Britanniens genug Platz zum sinnlosen Kreisen anbietet. Audrey ist sich ihrer Umstände nicht bewusst, aber sie ist nicht ‚Hirn‘-tot, ihre Gedanken eröffnen dem Leser Einblicke in ihre Kindheit und ihr bewegtes Leben vor der Krankheit, aus dem sie ohne Warnung gerissen wurde.

Auftritt Zack Busner: Dessen Gedankenstrom empfängt den Leser im Buch und wird ihn auch wieder daraus entlassen. Er ist der Erinnernde, der uns mit auf eine Reise durch Paraldehyd geschwängerte Tage nimmt in einem Krankenhaus, das sich der Verwahrung und Verwaltung der Patienten verschrieben hat. Eher zufällig denn schicksalhaft fällt die erste Begegnung zwischen Zack und Audrey aus. Der stets philosophierende Doktor ist verwundert über Audrey: Ihre Diagnose passt nicht zu ihren Symptomen und ohne einen konkreten Grund dafür nennen zu können, übt die zerbrechliche Alte einen morbiden Charme auf ihn aus, das Interesse an ihrer Behandlung ist geweckt. Eine tragische, dabei nicht heroische Reise beginnt. Darin werden medizinische Experimente, die Familiengeschichte der Deaths, das Privatleben des Dr. Busner, hohe Dosen L-Dopa, Unverständnis und Erkenntnis zu einem dichten Erzählstrang verflochten. Patientin und Arzt, beide verändern sich unwiderruflich, doch wer die anrührende Geschichte einer Freundschaft à la Oliver Sacks oder überhaupt eine Art Happy Ending erwartet, der muss enttäuscht werden.

„[I]hre Einweisung war Beerdigung“

Die Anstalt wird als Ort inszeniert, der eine Rückkehr in die Außenwelt nicht vorsieht, selbst Busner und Teile des Personals, die physisch in der Lage sind, die Gebäude zu verlassen, können die Anstalt nicht zurücklassen, nehmen sie in ihren Köpfen mit. Wer einmal in die Mühlen der Psychiatrie geraten ist, ist für die Welt verloren. Das Labyrinthische dieses Nicht-Orts, der alles Leben verschluckt, wird in den Köpfen der Insassen fortgeführt. Keiner weiß, was sich in ihren Gehirnwindungen verbirgt, wie viel Bewusstsein dort schlummert. Die medikamenten-induzierte Erweckung Audreys wirft dabei nicht nur Fragen über ihre Vergangenheit und Gegenwart und die unendliche Kluft dazwischen auf, sondern auch über die Kategorisierung von Normalität. Was heute als normal, gesund, zurechnungsfähig betrachtet wird, wurde gestern ganz anders gesehen und mag morgen schon überlebt sein. Erkenntnis stellt sich immer erst im Nachhinein ein, und dies einzusehen, mag zu den schmerzhaftesten Erfahrungen gehören.

Die literarische (überhaupt mediale, nicht medizinische) Beschäftigung mit geistig und/oder körperlich Beeinträchtigten als Extremfall des sozialen Außenseiters kann die verschiedensten Formen annehmen. Will Self ist bereit, auch die albtraumhaften Untiefen in der Psychiatrie zu thematisieren und die Schattenseiten aufzuzeigen, die bis in die rezente Vergangenheit reichen: Das Grauen des Kontrollverlusts auf Seiten der Patienten, die Schrecken von Hilflosigkeit und Resignation auf Seiten der Ärzte und Pfleger. Schwarze Schafe, die diese ausweglose Situation ausnutzen, um ihre eigenen niederen Triebe, ihren Sadismus, ihre Hybris, ihre moralisch fragliche Neugierde auszuleben. Das ganze Gruselkabinett möglicher Missetäter wird evoziert. Gleichzeitig macht Self klar, dass selbst unter den besten Bedingungen in Hospitälern wie Friern ‚leben‘ nicht wirklich möglich ist. Unter diesen Umständen zu überleben und nicht im Morast der eigenen Gedanken zu ersticken, ist für Patienten wie Personal – so wird angedeutet – eine Sisyphusarbeit.

Magnetische Lesezeichen

Regenschirm eröffnet sich seinen Lesern nicht ohne weiteres, nicht ohne Mühen; man muss daran knabbern, denn große Brocken abbeißen kann man nicht: Die Erzählung ist komplett als Gedankenstrom verfasst. Dabei kommt das ganze Buch ohne Kapitel aus, selbst Absätze sind rar gesät. Für Bücher wie diese wurden magnetische Lesezeichen erfunden. Will Selfs Prosa ist chaotisch und voller Wortneuschöpfungen, Ellipsen, abgebrochener Gedanken, Interjektionen. Hier scheint die Sprache einen Schluckauf zu haben. Die Perspektive des Denkenden, wessen Kopf man gerade bevölkert, wechselt ohne Vorwarnung, gern mitten im Satz. Auch die Chronologie hat keine Macht über das Geschehen. London vor dem Ersten Weltkrieg, ‚Gegenwart‘, die 1970er, die Nachkriegszeit, eine andere Gegenwart – die Zeiten wechseln sich ab und verschmelzen. Erzählerische Inkonsistenz und Sackgassen werden in Kauf genommen, vieles wird angedeutet und offengelassen, wer im medizinischen Jargon nicht firm ist, muss einiges nachschlagen, ein komplettes Bild ergibt sich nie.

Regenschirm ist ein polyphoner Roman über viele Themen. In seinem Zentrum steht die Frage nach geistiger (Un-)Gesundheit und dem Wandel in deren Beurteilung. Die anstrengende, verdrehte, verrückte Sprache dient dabei der Erzählung mehr als eine klare, strukturierte Ausdrucksweise es je gekonnt hätte. Wer bereit ist, hierein zu investieren, wird mit einer wunderschönen, furchtbaren Geschichte belohnt.

Will Self: Regenschirm
Aus dem Englischen von Gregor Hens
Hoffmann und Campe,
496 Seiten
Preis: 24,99 Euro
ISBN: 978-3-455-40462-3

 

3 Gedanken zu „Ein Regenschirm, den man nicht so leicht vergisst

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