Wenn der Clown zum Mörder wird

Der Bajazzo, Aalto-Musiktheater Essen (Foto: Matthias Jung)

Die neue Version der ebenso dramatischen wie kurzen Oper Der Bajazzo (Pagliacci) am Aalto-Musiktheater Essen ist vor allem eines: bildgewaltig. Regisseur Roland Schwab geizt nicht mit Lichtstimmungen, filmischen Kulissen und Requisiten. Während Robert Jindra die bestens disponierten Essener Philharmoniker souverän-temperamentvoll durch die Partitur von Leoncavallo führt, lassen die Sänger:innen einige Wünsche offen.

von HELGE KREISKÖTHER

Schon im Januar dieses zweiten von Corona geplagten Jahres war die Essener Opernproduktion Der Bajazzo (Pagliacci) bis zur Generalprobe einstudiert und bühnenfertig. Dann mussten die Premierenpläne aufgrund steigender Inzidenzzahlen jedoch einige Monate auf Eis gelegt werden: Umso erfreulicher, dass es dem Aalto-Theater jetzt sogar noch vor der Sommerpause möglich ist, Ruggero Leoncavallos Meisterstück – wenngleich in einer Fassung für reduziertes Orchester – live vor Saalpublikum aufzuführen.

Wie Pietro Mascagnis Einakter Cavalleria rusticana (Uraufführung 1890 in Rom) gehört Pagliacci (1892 in Mailand) zu den bekanntesten Opern des Verismo – jener italienischen Strömung, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Pendant zum literarischen Naturalismus entwickelte. Statt Königen, Rittern oder Fabelwesen werden hier vorzugsweise arme Dorfleute oder mittellose Künstler (wie in Puccinis La Bohème) auf die Bühne gebracht, die ohne kunstvolle Dialoge, mit viel Leidenschaft, um nicht zu sagen: primitiv zu Werke gehen. So sind auch der Plot und die Figuren in Leoncavallos Opervergleichsweise simpel bzw. überschaubar: Nach einem Prolog, in dem Tonio das ‚wahre Leben‘, die ‚echte‘ Seite der Liebe ankündigt, findet sich eine Theatertruppe aus Kalabrien zusammen, um eine Commedia dell’arte aufzuführen. Canio, der titelgebende Bajazzo, spielt dabei den betrogenen Ehemann von Colombina, die eine Affäre mit Arlecchino hat. Doch auch jenseits der Bühne hintergeht ihn seine Frau Nedda (im Stück die Colombina) mit dem Bauern Silvio. Als Canio dies erfährt, weigert er sich, weiter den Clown zu mimen. Während der Vorstellung fällt er zusehends aus seiner Rolle und ersticht schließlich Nedda (Colombina) mitsamt dem Geliebten. Ein wuchtiges Unhappy End.

Dem Komponisten Ruggero Leoncavallo (1857–1919), übrigens zugleich auch Textdichter des Bajazzo, gelang es trotz einiger weiterer Opern (ebenfalls La Bohème; Zazà; Der Roland von Berlin) zeit seines Lebens nicht mehr, an den Erfolg dieses Werkesanzuknüpfen: Genauso wie sein Kollege Mascagni blieb er ein One-Hit-Wonder. Vor allem die schmerzerfüllten Tenorarien der Titelrolle („Vesti la giubba“ im I. Akt – „No, Pagliaccio non son!“ im II. Akt) sichern Pagliacci bis heute größte Beliebtheit beim internationalen Publikum. Und auch in Essen verfehlt die Musik ihre Wirkung nicht.

Ein Sturm der Leidenschaft

Vor allem die opernerprobten Essener Philharmoniker machen den Abend im Aalto-Theater zu einer musikalischen Sternstunde – im wörtlichen Sinne, denn länger als etwa 75 Minuten dauert Der Bajazzo nicht. Sei es die gewissenhafte Einstudierung durch Maestro Jindra, das kollektive Hochgefühl unter den Musiker:innen, endlich wieder für anwesende Zuhörer:innen spielen zu dürfen oder einfach die Routine dieses Klangkörpers: Im Orchestergraben wird durchweg ausgewogen musiziert, mit dem nötigen Schmelz, Italianità, aber auch mit feinsinnigen Abstufungen (etwa in den Holzbläsern und den tiefen Streichern). Ein besonderer Genuss ist das Intermezzo zwischen dem I. und II. Akt, das mit seinen betörenden Klangfarben wohl nicht zufällig an das berühmte Zwischenspiel aus der Cavalleria rusticana erinnert. Man hört hier gar nicht sonderlich heraus, dass die Essener Philharmoniker kleiner besetzt sind.

Was die Solist:innen betrifft, steht und fällt bei dieser Oper alles mit den beiden Titelpartien: Canio und Nedda. Die anderen Rollen – Tonio, Beppe und Silvio – haben nicht allzu viel zu singen. Dennoch sei der Bassbariton Seth Carico hervorgehoben: Mit seiner stimmlichen und auch darstellerischen Intensität verleiht er Tonio mehr Gewicht, als man es von diesem Prolog-Tölpel gewohnt ist. Er begleitet den Bajazzo beinah wie ein Alter Ego über den Abend hinweg. Der Moskauer Tenor Sergey Polyakov (alias Canio) und die niederländische Sopranistin Gabrielle Mouhlen (alias Nedda) bleiben hingegen etwas hinter den Erwartungen zurück: Ihr Erscheinungsbild – in Fachkreisen gern als physique du rôle bezeichnet – ist ideal, ihre Stimmen wirken aber über manche Passagen etwas zu angestrengt oder sind sogar deutlich zu leise; auch die italienische Artikulation gelingt nicht immer makellos. Es ist und bleibt ein Drahtseilakt, hochemotionale Partien stets sauber auszubalancieren; im Laufe der kommenden Vorstellungen mag dies besser gelingen. Dem Kritiker sei an dieser Stelle jedoch die zugegeben einfallslose Feststellung erlaubt, dass für den Bajazzo Jonas Kaufmann die tenorale Referenz bleibt.

Der Bajazzo, Aalto-Musiktheater Essen (Foto: Matthias Jung)

„La commedia è finita“ – Das Spiel ist aus

Spätestens seit seinem Mefistofele 2015 an der Bayerischen Staatsoper dürfte der Name Roland Schwab Opernfreund:innen deutschlandweit bekannt sein. In Essen war der 1969 geborene Regisseur bereits im Frühjahr 2019 mit einer eindrucksvoll düsteren Inszenierung von Verdis Otello zu Gast https://atomic-temporary-27971768.wpcomstaging.com/2019/02/04/aalto-otello/. Der Bajazzo knüpft also gewissermaßen – in Bezug auf das Bühnenbild (Piero Vinciguerra) ist dies nicht zu übersehen – an Schwabs cineastischen Reigen der italienischen Eifersuchts- bzw. Teufelstragödien an. Im Fokus steht (auch) diesmal das Licht in all seinen Facetten, Spiegelungen, schaurigen oder kitschig-romantischen Stimmungen. Im II. Akt kommen die Glühbirnenketten immer weiter auf die ‚Manege‘ herunter und erleuchten das blutige Finale – im Hintergrund zündeln echte Flammen –, während zu Beginn noch alles spooky beleuchtet und (als offensichtliche Vorwegnahme) wie an einem Tatort mit zugedeckten Leichen von Colombina-Doubles dekoriert war.

Schwab selbst bezeichnet seine Pagliacci-Szenerie als „Synapsen-Raum, der zunehmend irrlichtert“. Atmosphärisch und im weitesten Sinne auch thematisch geht dieses Konzept auf. Dennoch ist der komprimierte, wie gesagt nur etwa 75-minütige Abend im Aalto-Theater zu überladen mit Videoprojektionen (aus dem früheren Leben des Bajazzo) und Filmanspielungen – Tonio hat etwas von Boris Karloff als Dr. Frankensteins Monster. Stereotype Clownsmasken wie auf jedem zweiten CD-Cover dieser Oper sieht man zwar nicht, dafür eine Menge anderer Requisiten: Mitunter springen die Darsteller:innen chaotisch zwischen abgetrennten Gliedmaßen hin und her. Überdeutliche Aktualitätsbezüge wie das Holzschild mit der Aufschrift „Theater muss sein“, welches dem Bajazzo wie einem gedemütigten Sklaven oder Wachhund um den Hals hängt, gehören in Pandemiezeiten wohl oder übel zum Inventar von Neuproduktionen. Andererseits scheint Pagliacci als ‚Krisenstück‘ tatsächlich sehr passend: Die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit, Kunst und Leben lösen sich immer weiter auf, und ebenso die Distanz des Premierenpublikums zur allzu lang auf Abstand gehaltenen Oper. Wenn der Essener Bajazzo auch etwas zu sehr auf visuelle Effekte setzt, macht er doch eindrücklich klar: Musiktheater ist nicht totzukriegen. Das Spiel fängt gerade erst wieder an.

Informationen zur Inszenierung https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/pagliacci/

Nächste Vorstellungen:

Sonntag, der 6. Juni
Sonntag, der 13. Juni
Freitag, der 18. Juni

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