Erfroren am Everest

Jon Krakauer: In eisige Höhen. Das Drama am Mount Everest, Cover: Piper

Es bedarf dreier Ingredienzen für einen gelungenen Samstagabend: einer sternenklaren Nacht, eines gemütlichen Kinositzes und einer Geschichte erzählt von Benjamin-Blümchen- und Eugene-Krabs-Sprecher Jürgen Kluckert. Das Konzept der Literatur der Nacht-Veranstaltungsreihe weiß zu begeistern! Wagen wir deshalb einen Blick zurück auf die eisigen Höhen, eine tödliche Expedition im ewigen Eis jenseits der 8.000-Meter-Marke.

von THOMAS STÖCK

Das Planetarium in Bochum hat wieder ein besonderes Schmankerl in seinem Veranstaltungskalender: Die Literatur der Nacht findet am 2. und 3. Februar ein weiteres Mal statt. Ein Grund für uns zurückzublicken: Jon Krakauers In eisige Höhen. Das Drama am Mount Everest lässt uns an einer Expedition am höchsten Berg der Welt im Jahre 1996 teilhaben, an dem Krakauer nur knapp dem Tod entronnen ist. Ein Schicksal, das leider manches der übrigen Expeditionsmitglieder ereilte…

Expedition ins Ungewisse

Doch beginne ich am besten mit dem Anfang: Wir schreiben den 25. Februar 2023. Das Planetarium in Bochum ist ein heimeliger Ort, an dem die Gäste des Hauses sich zurücklehnen und aufwändige Shows genießen können. Ich betrete die „Arena“, die kreisförmig angelegte Möblierung des Planetariums. Direkt rechts neben der kleinen Bühne sitze ich und harre gespannt dieser Lesung der besonderen Art. Nach einigen Worten der Vorrede betritt der Star des heutigen Abends die Bühne: Jürgen Kluckert. Dieser ist für seine markante Stimme bekannt, die mich seit Kindertagen begleitet, etwa als Benjamin Blümchen oder in SpongeBob Schwammkopf (als Eugene Krabs). Kluckerts Gang auf die Bühne passt zu der Erzählung des heutigen Abends: Seine Schritte sind beschwerlich, er ist außer Atem. Die wenigen Treppenstufen die Bühne hinauf muss der 79-Jährige gestützt werden. Einige Stunden später wird Kluckert verkünden, dass es sein letzter Ausflug nach Bochum sein wird. Er sollte Recht behalten: Am 23. August vergangenen Jahres ist der Hörbuchsprecher verstorben.

Den Beschwerlichkeiten seines Auftritts zum Trotz ist Kluckert schnell in seinem Element. Die Qualen, das Ringen um Sauerstoff in den eisigen Höhen führt der routinierte Profi dem Publikum eindrucksvoll vor Augen. Atemberaubend ist diese Lesung im wahrsten Sinne des Wortes. Immerhin geht es um den Extremsport des Höhenbergsteigens. Krakauers Dokumentation seiner Expedition auf den höchsten der Seven Summits führt uns in die sogenannte Todeszone. Ab einer Höhe von etwa 7.000 Metern ist ein längerer Aufenthalt für Menschen unmöglich. Bis zur Spitze des Berges folgen noch 1.848 weitere Höhenmeter…

Tödlicher Kommerz

Jon Krakauer reist zu der Tour als Journalist für das Magazin Outside. Andere Tourteilnehmer sind routinierte Bergsteiger. Die Mehrheit jedoch sind Touris. In den 1980ern wandelt sich das Höhenbergsteigen von einer Nischenbeschäftigung für wenige Menschen zu einer Massenveranstaltung wohlhabender Abenteurer. Nicht zuletzt Reinhold Messner sorgte für eine Popularisierung des eiskalten, kräftezehrenden Kletterns. Doch die von Messner hinterlassenen Fußstapfen entpuppen sich für den Einen oder Anderen als zu groß: Ein nicht zu verachtender Teil der Touris verfügt über nur geringe Übung im Bereich des Extrembergsteigens. In Krakauers Expeditionsteam befinden sich zahlreiche Personen, die mit dem Bergsteigen in dieser Höhe keine Erfahrungen hatten. Entscheidend für ihre Teilnahme waren nicht ihre Fähigkeiten, sondern ihr Geldbeutel.

Um dem steigenden Andrang gerecht zu werden, wurde deshalb in dieser Zeit das Bergsteigen mit Sauerstoffflasche immer beliebter. Die größere Sauerstoffzufuhr hat den Vorteil, dass mehr Sauerstoff ins Blut kommt und die Bergsteiger so zu größeren Leistungssprüngen fähig sind. Das Problem: Sind die Sauerstoffflaschen leer, ist plötzlich deutlich weniger Sauerstoff im Blut konzentriert. Es kommt zum rapiden Leistungsabfall. Der Touri-Ansturm birgt zudem das Risiko, dass zu viele Menschen gleichzeitig den Gipfel stürmen wollen. Zu Krakauers Expeditionsteam, den Adventure Consultants, gesellen sich auf der Südseite das Team Mountain Madness sowie eine staatliche Expedition Taiwans. Insgesamt sind es also über 30 Menschen, die am 9. Mai 1996 den Mount Everest von der nepalesischen Südseite besteigen wollen. Zwei weitere Expeditionsteams versuchen ungefähr zur selben Zeit, auf der chinesischen Nordseite an die Spitze zu gelangen.

Ein voller Flaschenhals am Everest

Die Spitze des Berges ist – wie ihr Name vermuten lässt – der schmalste Punkt des Aufstiegs. Gleich einem Flaschenhals ist der Kletterweg hier durch die geringste Anzahl an Kletterern zu bewältigen. In diesen schneeigen Flaschenhals passt nur eine einzige Person hinein. 45 bis 90 Minuten Wartezeit bedeutet das für den einzelnen Kletterer an dieser Stelle. Die lange Wartezeit ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass die beiden Leiter der kommerziellen Expeditionsteams die Anweisung an ihre Mitglieder herausgegeben haben, beisammenzubleiben. Schnellere Kletterer werden so aufgehalten und es entsteht am Flaschenhals ein unsäglicher Stau. Der wiederum führt zum nächsten Problem: Es wurde kein Zeitpunkt festgelegt, an dem alle Kletterer zurück ins Lager kehren sollen. Statt eines point of no return gibt es no time to return – ein fataler Fehler der Tour-Leiter.

Das Unglück an diesem Abend nimmt seinen wettergegerbten Lauf, als ein Gewitter sich Bahn bricht. Im Schneesturm haben die Kletterer nur noch wenige Meter Sicht, was den Abstieg erschwert. Mehrere Kletterer bleiben auf der Strecke zurück, sodass in den folgenden Stunden ins Lager zurückgekehrte Guides sich auf die Suche nach ihnen begeben müssen. Dieser Wettlauf gegen die Zeit ist nicht für alle Kletterer zu gewinnen…

Vom höchsten Berg an den südlichsten Punkt

Das Drama im ewigen Eis in all seinen Akten ist schaurig. Ein Blick nach oben offenbart den unschuldigen Sternenhimmel, wie er sich am Tage des 10. und 11. Mai Jon Krakauer und den übrigen Expeditionsteilnehmern präsentierte. Kluckerts Sprachgewalt bringt dieses famose Trauerspiel erst richtig zur Geltung. Genau das ist die Literatur der Nacht: Eine Lesung, bei der sich alle Nackenhaare aufstellen. Am 3. Februar wiederholt sich dieses Ereignis im Bochumer Planetarium ein weiteres Mal, wenn Vorleser und Publikum gemeinsam vom Mount Everest an den Südpol reisen. Mit der Endurance ins ewige Eis von Ernest Shackleton steht dann auf dem Programm. Es bleibt zu hoffen, dass noch viele weitere Nächte, ob im ewigen Eis oder sonst wo, an diesem wunderbaren Ort folgen werden.

Literatur der Nacht präsentiert:
Ernest Shackleton: Mit der Endurance ins ewige Eis. Live gelesen von Gerrit Schmidt-Foß – unter den funkelnden Sternen des Südpols
Termine: 3. Februar, 18–20 und 21–23 Uhr
Weitere Informationen:
 https://www.instagram.com/literatur_der_nacht

Außerdem präsentierte die Literatur der Nacht:
Jon Krakauer: In eisige Höhen. Das Drama am Mount Everest. Live gelesen von Jürgen Kluckert.

Jon Krakauer: In eisige Höhen. Das Drama am Mount Everest. Aus dem Englischen von Stephan Steeger
Piper, 400 Seiten
Preis: 12,00 Euro
ISBN: 978-3-492-22970-8

Ernest Shackleton: Mit der Endurance ins ewige Eis. Meine Antarktisexpedition 1914–1917. Aus dem Englischen von Sieglinde Denzel und Susanne Naumann
National Geographic, 285 Seiten
Preis: 16,00 Euro
ISBN: 978-3-492-40597-3

2 Gedanken zu „Erfroren am Everest

  1. Das Buch von Krackauer steht allerdings auch in der Kritik, weil der Autor selbst wenig Erfahrung mit Höhenbergsteigen gehabt habe. Insbesondere die Rolle, die bei ihm Anatoli Bukrejew spielt, wurde sehr kritisiert, und der hat sich gezwungen gefühlt, dann selbst ein Buch zu schreiben. Auf YouTube stehen zahlreiche Dokus zu dem Unglück online, die verschiedene Perspektiven stärker gewichten, und ich denke, man sollte mehrere gesehen haben und sich insgesamt relativ viel mit Höhenbergsteigen auseinandergesetzt haben, und sei es auch nur in der Theorie, um sich hier ein Urteil zu bilden, wer tatsächlich was falsch gemacht hat.

    • Vielen Dank für die weiterreichenden Informationen!

      Krakauers mangelnde Erfahrung findet im Buch auch Erwähnung. Man sollte Krakauer zugute halten, dass er weder für die katastrophalen Fehlentscheidungen verantwortlich war noch das Gelingen der Besteigung in irgendeiner Form gefährdet hat (zumindest soweit meine Kenntnisse dieses Falls reichen). Jedenfalls habe ich nie Argumente in diese Richtung gelesen, weshalb ich die Kritik an seinen Fähigkeiten für nicht weiter relevant halte.

      Die Schuldzuweisung an Anatoli Bukrejew von Seiten Krakauers habe ich bewusst nicht erwähnt, weil die Beiden im Nachgang ihren Disput beigelegt haben (übrigens kurz bevor Bukrejew an einem anderen 8.000er, der Annapurna, verstarb). Letztendlich sind insbesondere die Tour Guides und die dahinter stehenden Veranstaltungsunternehmen hauptverantwortlich, da diese die Planung der Besteigung vornahmen. Ihre Fehler haben die beiden Guides aber auch mit dem Leben bezahlen müssen.

      In meinen Augen sind solche Fragen nach der Schuld als Außenstehender nicht zu beantworten, egal wie viel Verständnis man nun vom Höhenbergsteigen hat oder nicht. Ähnlich gelagert ist beispielsweise der Fall Reinhold Messner, der jahrelang beschuldigt wurde, seinen Bruder seinem Ehrgeiz geopfert zu haben. Ihn hatten auch Teilnehmer der gemeinsamen Tour harsch angegriffen. Erst mit dem Fund der Leiche des Bruders hat sich drei Jahrzehnte später gezeigt, dass Reinhold Messners Darstellung wahrscheinlich der Wahrheit entspricht.

      Für uns als Leser (oder fleißige Dokuschauer) ist es meines Erachtens sinnvoller, sich nicht mit einfachen Antworten zufriedenzugeben. Ein Urteil für die eine wie für die andere Seite ist Teil des dramatischen Spannungsbogens, der in Werken der Populärkultur oftmals eingesetzt wird. Anders als in Krimis ist „die Wahrheit“ abseits der Fiktion aber oftmals diffiziler…

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