Ein Freund fürs Überleben

Lize Spit: Der ehrliche Finder, S. Fischer Verlag

Eine Freundschaft von einer Bedingungslosigkeit wie es sie nur in der Kindheit gibt dies ist der Nukleus, um den sich LizeSpits Roman Der ehrliche Finder dreht. Die Freundschaft zwischen dem jungen Romanhelden Jimmy und dem aus dem Kosovo geflüchteten Tristan führt auf beiden Seiten zu neuen Erfahrungen: Jimmy hilft Tristan beim Belgisch lernen und Tristan lässt Jimmy endlich spüren, was es bedeutet einen Freund zu haben. Doch als plötzlich der Ausweisungsbescheid für Tristans Familie auf dem Küchentisch liegt, gerät das Leben beider Jungen aus den Fugen.

von KAREN ELIAS

Lize Spits frisch erschienener dritter Roman Der ehrliche Finder beginnt ganz harmlos: Wir begleiten den zehnjährigen Jimmy bei seinen Fahrrad-Exkursionen durch die belgische Kleinstadt, in der er aufgewachsen ist. Ihn beschäftigen die klassischen Sorgen eines kleinen Jungen: seine Flippo-Sammlung (das deutsche Äquivalent wären wohl Panini-Bilder) ist immer noch unvollständig und Jimmys Vater hat die Familie verlassen und meldet sich nicht mehr bei seinem Sohn. Auf den ersten Blick ist diese Handlung so tragisch wie alltäglich. Doch Lize Spit gelingt es. wie kaum einer Zweiten, die Gedankengänge eines Kindes authentisch auf Papier zu bringen. Die Nachdrücklichkeit mit der Spit etwa die Ernsthaftigkeit von Jimmys ‚Beruf‘ als Sammler von Flippos beschreibt ist gleichzeitig elegant und doch unumstritten kindlich. Die Interessen und Begierden des Protagonisten versetzen sofort zurück in die eigene Kindheit. Für Jimmy ist beispielsweise der Schlafraum der Ibrahimis ein Ort von großer Faszination. Sie schlafen alle gemeinsam auf Matratzen auf dem Boden in einem Zimmer, das voll mit Kissen und Decken für die Eltern und ihre zehn Kinder ist. Im Laufe des Romans stellt Jimmy fest, dass die Familie dieses Bettenlager konstruiert hat, weil sie nachts unter Angstzuständen leiden und nicht voneinander getrennt schlafen können.

Trauma im Alltag

So lässt Der ehrliche Finder das Trauma der geflüchteten Familie durch kindliche Augen sichtbar werden. Je tiefer die Freundschaft zwischen Jimmy und Tristan wird, umso mehr versteht Jimmy die Grausamkeit einer Flucht und die bleibenden Schäden, die sie hinterlässt. Der Roman überrascht so immer wieder, mit sowohl Härte als auch plötzlicher Sanftheit, dabei wird die Grausamkeit der menschlichen Natur im Tandem mit selbstloser Hilfsbereitschaft und Liebe präsentiert. Besonders deutlich wird die prekäre Natur des Lebens der geflüchteten Familie Ibrahimi, als sie der kurz bevorstehenden Abschiebung benachrichtigt werden. Die Freundschaft zwischen Tristan und Jimmy wird im grausamen Licht dieser Nachricht plötzlich Mittel zum Zweck. Der junge belgische Protagonist sieht sich konfrontiert mit der Frage, wie weit er gehen wird, um die befreundete Familie vor der Ausweisung zu bewahren. Lize Spit stellt die Ängste von sowohl Jimmy als auch Tristan und seinen Geschwistern so bildlich dar, dass es einem beim Lesen die Kehle zuschnürt.

Wahres Leben auf wenig Seiten

Auf nicht einmal 130 Seiten schafft Der ehrliche Finder es, immer wieder mit unerwarteten Wendungen zu überraschen, die die Verzweiflung im alltäglichen Leben Jimmys und den von Angst zerfressenen Alltag der Ibrahimis weiter ausleuchten. Nicht nur das belgische Dorf der Neunziger Jahre wächst aus den Seiten des Romans empor, auch die Figuren werden zu unfassbar realen Charakteren. Selbst Nebenfiguren, die nur mit wenigen Sätzen erwähnt werden, fügen sich widerstandslos in das von Spit gezeichnete Gesellschaftsportrait ein. Trotz der Schmalheit des Romans und dem inhärenten Gewicht der Thematik erzählt Der ehrliche Finder seine von der realen Familie Zenelaj inspirierte Geschichte mit Witz und einem tiefen Verständnis von Menschlichkeit.

LizeSpit: Der ehrliche Finder

Übersetzt von: Helga van Beuningen

S. Fischer Verlag, 128 Seiten

Preis: 18,00 Euro

ISBN: 978-3-10-397564-2

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