Schreibt Murakami seit Jahren immer wieder den gleichen Roman?

Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewissen Mauer, DuMont

In seinem neusten Roman begibt sich der japanischen Altmeister Haruki Murakami wie so oft auf einen phantastischen Pfad, der auch die ein oder andere Liebesgeschichte kreuzt. Die Stadt und ihre ungewisse Mauer ist dabei in vielerlei Hinsicht ein klassischer Murakami-Roman. Die Frage stellt sich also: Altbewährtes oder Aufgewärmtes von gestern?

von CAROLIN KAISER

Phantastische Elemente in einer ansonsten realistischen Welt? Check. Männlicher, alleinstehender, heterosexueller Ich-Erzähler ohne Namen zwischen Mitte 30 und Mitte 40? Check. Jazzmusik? Check. Eine mittelprächtige Liebesgeschichte? Check. Kochszenen? Check. Man braucht nicht auf den Buchrücken zu schauen, um sich zu vergewissern, dass Haruki Murakami der Autor von Die Stadt und ihre ungewisse Mauer ist. Der Inhalt trieft vor murakamiesken Eigenheiten, man könnte fast schon sagen: Klischees. Aber vertraut und bekannt ist ja nicht gleich schlecht und innovationslos. Worum geht es also genau in Murakamis neustem Roman?

Übernatürliches und allzu Menschliches

Der Roman handelt von einem namenlosen Mann Mitte 40, der in seiner Jugend mit einem Mädchen zusammen war, das ihm von einer mysteriösen ummauerten Stadt erzählt hat, in der es keine Zeit gibt, Einhörner leben und die Menschen beim Betreten von ihren Schatten getrennt werden. Das Mädchen – laut eigener Aussage ein solcher abgetrennter Schatten – verschwindet eines Tages plötzlich und spurlos. Das Erwachsenenleben des Protagonisten ist überschattet von dieser abrupt beendeten Jugendliebe. Knapp 30 Jahre nach dem Verschwinden seiner Freundin gelangt er jedoch selbst in die ummauerte, übernatürliche Stadt, wo alles genauso ist, wie das Mädchen es ihm geschildert hat. Er wird von seinem Schatten getrennt. Das Mädchen arbeitet als Bibliothekarin in einer Bücherei, in der Träume vom städtischen Traumleser – dem Protagonisten – gelesen werden. Doch das Mädchen erinnert sich nicht an ihn und das Leben in der ummauerten Stadt ist trostloser als erhofft. Er flieht. Doch die Erlebnisse lassen ihn nicht los. Er kündigt seinen Job als Angestellter in einem Tokioter Verlag und zieht in ein kleines Provinzstädtchen, wo er die Leitung der örtlichen Bibliothek übernimmt. Der kleine Ort scheint jedoch eine engere Verbindung zu der ummauerten Stadt zu haben als zunächst gedacht.

Das hab’ ich doch schonmal gelesen!

Ummauerte Stadt? Abgetrennte Schatten? Traumleser? Einhörner? Erfahrene Murakami-Leserinnen und Lesern wähnen sich in einem Déjà-vu. Denn so ganz neu ist die Grundidee des Romans nicht. Murakamis 1985 erschienener Roman Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt wartet mit einer nahezu identischen Parallelwelt auf. Die Ähnlichkeit ist kein Zufall – oder gar ein Selbstplagiat –, wie Murakami selbst im Nachwort erklärt. Vielmehr sind sowohl Hard-Boiled Wonderland als auch Die Stadt und ihre ungewisse Mauer Murakamis Versuch, eine rund 100-seitige Kurzgeschichte aus seiner schriftstellerischen Anfangszeit (die verwirrenderweise ebenfalls Die Stadt und ihre ungewisse Mauer heißt) in eine adäquate Romanform zu bringen. Innerhalb Murakamis Gesamtwerk fällt dem neuen Roman somit eine wichtige Position zu, greift er doch eine Idee, eine Welt auf, die Murakami offensichtlich seine gesamte schriftstellerische Karriere über nicht losgelassen hat. Musste dieser Stoff vielleicht einfach 40 Jahre reifen? Quasi ein literarisches Äquivalent zu Käse und Wein? Es schmerzt zu sagen, aber – der ganz große Wurf ist der Roman nicht.

Bloß nicht hetzen!

So typisch Murakami Figuren und Details sind, so typisch Murakami ist auch die große Schwäche des Romans. Er ist laaangsaaam. Die 640 Seiten des Romans werden durch seine Handlung nicht gerechtfertigt. Die gemächliche Handlungsgeschwindigkeit ist sicherlich ein Grund, warum Murakamis Romane in der Regel so tiefenentspannende Lektüren sind, aber in Die Stadt und ihre ungewisse Mauer ist es nicht nur die erzählerische Gelassenheit, die die Anzahl der Seiten in die Höhe schnellen lässt. Schuld sind auch die permanenten Wiederholungen von Informationen und ständiges in Erinnerung rufen von Handlungselementen, die erst wenige Seiten in der Vergangenheit liegen. Wer wenig Zeit zum Lesen hat und deshalb Romane in kleinen Häppchen über einen langen Zeitraum hinweg liest, dem wird diese erzählerische Eigenheit vielleicht zu Gute kommen. Dieser Wiederholungsfimmel führt allerdings auch zu tautologischen Stilblüten wie dieser hier: „Denn wäre [der Umschlag] leer gewesen, hätte sich also nichts drin befunden, dann hätte mich das wenig verwirrt.“ Ein leerer Umschlag ist ein Umschlag, in dem sich nichts befindet. Danke für diese Klarstellung, Herr Murakami. Nichtsdestotrotz vermag es der Roman an manchen Stellen zu überzeugen. Insbesondere der erste Teil des Romans ist erzählerisch sowohl ungewöhnlich als auch ansprechend. In ihm wechseln sich Kapitel, die die Beziehung zwischen dem Protagonisten und seiner Freundin aus Jugendjahren erzählen, mit solchen ab, die das Leben des Protagonisten in der ummauerten Stadt beschreiben. Der erzählerische Clou an den Kapiteln über die formative Jugendliebe des Protagonisten: Sie sind in der eher seltenen Du-Form geschrieben und richten sich direkt an das verschwundene Mädchen. Durch diese Erzählperspektive gewinnen die Kapitel eine Intimität, von der auch die weiteren zwei Teile des Romans noch zerren. Denn die Nähe und Direktheit, die diese Kapitel vermitteln, trösten darüber hinweg, dass das Mädchen ansonsten nicht wirklich eine Persönlichkeit hat und auch im restlichen Roman nur als eine Sehnsucht des Protagonisten eine Rolle spielt. Alles in allem ist Die Stadt und ihre ungewisse Mauer sicherlich nicht Murakamis bester Roman. Aber er liefert das, was man von Murakami erwartet: eine entspannte, wohlig-mysteriöse Lektüre.

Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

DuMont, 640 Seiten

Preis: 34,00 Euro

ISBN: 978-3-8321-6839-1

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