Von dem Vermächtnis einer Pionierin

Octavia E. Butler: Parable of the Talents, Cover: Headline

Lauren Oya Olamina ist tot. Nun ist es an ihrer Tochter, ihre Aufzeichnungen zu ordnen und sich zu versuchen, ihrem Vermächtnis anzunähern: Anführerin, Lehrerin, Mutter. 
Octavia E. Butlers Parable of the Talents aus dem Jahr 1998 ist eine brillante Fortsetzung des ersten Bandes Parable of the Sower, die kunstfertig auf dessen Themen von Gemeinschaft, Zerstörung von Individuum und Zivilisation und der Macht der Veränderung aufbaut und der es gelingt, diesen in seiner Brandaktualität noch zu übertreffen.

von JOAH KULMS

Seit dem Ende von Parable of the Sower sind fünf Jahre vergangen. Lauren Oya Olamina hat eine neue Nachbarschaft, neue Mauern und einen neuen Titel: In Acorn, der Gemeinschaft, die sie mit ihren Reisegefährt*innen auf dem Land ihres Mannes Bankole gegründet hat, ist sie als Shaper bekannt. Denn Acorn ist nicht nur ein Zufluchtsort für Hungrige und Verlorene, sondern auch die erste Earthseed-Gemeinde. 
Wie in Parable of the Sower auch, erzählt Octavia Butler ihre Geschichte erneut durch die Tagebucheinträge Laurens, deren Schreiben hier einmal mehr zu einer Überlebensstrategie wird. Anders ist die Rahmung: Die Notizen sind von Lauren Olaminas Tochter zusammengestellt worden, in einem Versuch, dem wahren Kern der Überzeugungen ihrer Mutter nahe zu kommen: „In order for me to understand who I am, I must begin to understand who she was.“
Auch wenn Laurens – oder Olaminas, wie sie nun genannt wird – Stimme erneut die Erzählung dominiert, ist sie doch merklich fragmentarischer, enthält ebenso Ausschnitte der Aufzeichnungen ihres Mannes, ihres Bruders und ihrer Tochter. Diese Erzählform erlaubt es Butler, eine neue Perspektive nicht nur auf die Weiterentwicklung ihrer Welt, sondern auch auf ihre Protagonistin zu schaffen. Die Bewertungen, Fragen und Zweifel, die andere Figuren unabhängig von Olamina an ihren Werdegang stellen, halten die Lesenden in einer ständigen Spannung, erfordern eine intensive Auseinandersetzung mit dem Text und seiner komplexen Heldin – Ist die Bitterkeit, mit der Asha Vere über ihre Mutter schreibt, gerechtfertigt? Wäre es tatsächlich besser gewesen, hätte sie andere Entscheidungen getroffen? Haben wir, die ihre Geschichte seit ihrem fünfzehnten Geburtstag verfolgt haben, nicht ein umfassenderes Bild ihres Charakters? 
Das ist ein Spannungsfeld, das sich bis zum Ende des Romans nicht auflöst. Butler, wie an so vielen Stellen ihres Schaffens, versagt uns eine einfache Antwort.

Make America great again

Parable of the Talents ist ein Buch, das nachhaltig wirkt. Butler gelingt es, den Sämann auf eine Vielzahl von Weisen zu übertreffen: Wo der vorherige Band die Welt erst noch ausbreitet, erzählt sie hier mit einer beeindruckenden Scharfsinnigkeit von dem Werdegang, den ihr fiktives Amerika der Zukunft nimmt.
Somit beweist sie mit diesem Werk noch mehr, wie hochaktuell ihr Schreiben, gerade 26 Jahre nach seiner Veröffentlichung, noch ist. Wie sie selbst sagt:

Parable of the Sower was a book about problems. I originally intended that Parable of the Talents be a book about solutions. I don’t have the solutions, so what I’ve done here is looked at the solutions that people tend to reach for when they’re feeling troubled and confused.“

Eine dieser Lösungen besteht in der Wahl eines neuen amerikanischen Präsidenten, dessen politische Linie dem heutigen Lesenden sehr bekannt vorkommt: „Leave your sinful past, and become one of us. Help us to make America great again.“ 
Butlers Präsident Jarret ist ein christlicher Fundamentalist, der die Abkehr der Bevölkerung vom „wahren Glauben“ und seinen Lehren als den Ursprung allen Übels ansieht. Resultat ist nicht nur die Gründung der Church of Christian America, sondern auch eine gewalttätige, fanatische Meute, Hexenverbrennungen und die Internierung von religiös Andersdenkenden und allen, die nicht in das neue amerikanische Bild passen, in brutale Umerziehungslager. 
Eine tödliche Gefahr für die langsam wachsende Earthseed-Sekte.
Parable of the Talents ist noch schwieriger zu ertragen als sein Vorläufer. Butler schreibt über Gewalt mit einer Intensität, die unter die Haut geht. Ihre Beschreibungen gehen selten ins Detail, sind kaum voyeuristisch. Wie ihre Erzählerin Olamina sind sie präzise, direkt und schnörkellos. Die schiere Menge an Trauma, an Verzweiflung und Gewalt, die jede einzelne Figur dieses Romans erlebt, könnte bewirken, dass der Lesende nach einer Weile abstumpft.
In gewisser Weise tritt dieser Effekt ein: Wie für Olamina werden die Scherben einer zerbrochenen Welt Alltag. Nur ein weiteres totes Kind, das wir am Straßenrand zurücklassen, nur eine weitere Vergangenheit voller Schmerz und Verlust, nur ein weiteres grausames Folterinstrument, das Menschen in ihrem Hunger nach Macht ersonnen haben.
Somit ist Butlers Pessimismus streckenweise hart an der Grenze dazu, destruktiv zu sein. Gewisse Passagen in der Mitte des Romans sind kaum auszuhalten, und es drängt sich die Frage auf, was der literarische Sinn hinter all dieser Grausamkeit und den menschlichen Abgründen ist. 
Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen, bevor er*sie zerbricht?
Wie viel kann uns als Lesenden zugemutet werden, bevor wir uns verstört und resigniert abwenden?

„Consider – We are born not with purpose, but with potential“

Dennoch gelingt es Butler nicht allein zu schockieren, sondern diesem Entsetzen auch Substanz zu verleihen, die weit über billigen Grusel hinausgeht. 
Olaminas Welt ist keine weit entfernte Horrordimension. Sie liegt dicht unter unserer Realität. Seien es die historischen Zeugnisse des transatlantischen Sklavenhandels, Trumps politisches Wirken oder die Auswüchse eines christlich-fundamentalistischen Amerikas: Wie Olamina Earthseed als eine Reihe von Wahrheiten beschreibt, die sie aus ihrer Beobachtung der Welt gezogen hat, ist die Welt der Parables-Reihe aus Strömungen und Institutionen zusammengesetzt, die sich an jedem Punkt der Menschheitsgeschichte wiederfinden lassen.
Sie ist in ihrer Endgültigkeit potenziert, aber nicht wirklich neu. 
Und sie ist eine deutliche Warnung: Freiheit und Sicherheit sind kostbarer und verletzlicher, als wir es annehmen.
Und doch ist Parable of the Talents, noch mehr als Parable of the Sower, das Gegenteil einer Kapitulation vor der Schlechtigkeit der Welt. Im Angesicht allen Schreckens und aller Zerstörung, die uns auf jeder einzelnen Seite begegnen, ist der Roman ein eindringlicher Aufruf zum Handeln. Wie Olamina selbst predigt: „Seize Change. Use it. Adapt and grow.“
Wo Parable of the Sower sät und erntet, ist Parable of the Talents im Begriff, neu zu errichten; egal, wie oft es wieder eingerissen wird. Sei es eine Schule, eine Gemeinschaft oder die Vision einer neuen Zukunft der Menschheit. 
Und somit verlassen wir die Parables-Dilogie angegriffen, verstört und aufgewühlt, aber nicht resigniert oder zerschlagen von sinnlosem Terror. Was bleibt, sind die Momente der Gemeinschaft, Freude und Hoffnung, die Saatkörner, mit denen Lauren Olamina auch uns zurücklässt. 

Are you Earthseed?
Do you believe?
Belief will not save you. 
Only actions
Guided and shaped
By belief and knowledge
Will save you.
Belief
Initiates and guides action – 
Or it does nothing
.“

Octavia E. Butler: Parable of the Talents

Headline, 400 Seiten

Preis: 13, 00 Euro

ISBN: 978-1-4722-6365-0

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