„Dérèglement de tous les sens“ – Die dichterische Zügellosigkeit als Zukunft der Dichtung?

Arthur Rimbaud – Die Zukunft der Dichtung   Cover: Matthes & Seitz„Hier nun Prosa über die Zukunft der Dichtung“ – so setzt Arthur Rimbaud (1854 – 1891) in einem seiner provokanten Seher-Briefe an. In dem Beschluss „Das will nicht nichts bedeuten“, scheinen noch heute die Myriaden Geheimnisse der Lyrik auf. Entsprechend bedeutungsschwanger und vielversprechend mutet es an, dass Tim Trzaskaliks Übersetzung von zwei Essays (u.a. von Philippe Beck) und einem vergleichsweise ungeheuren Anmerkungsapparat begleitet wird.

von SELIN GERLEK

Arthur Rimbauds Werk entstand in einer nur vier Jahre währenden Schaffensperiode. Er gilt nicht nur als Vorbereiter des Symbolismus, sondern zugleich als radikaler Erneuerer dessen, was man die ‚Sprache der Dichtung‘ nennen könnte. Die Seher-Briefe nehmen daher eine besondere Stellung in seinem Werk ein: Sie enthalten jene Autopoetik, die der Dichter mit nur 16 Jahren niederschrieb und die den Übergang zu dessen zweiter und großer Werkphase markiert.

Was der bei Matthes & Seitz erschienene Band mit der Neuübersetzung an neuem Licht in die dunkel-hermetischen Seher-Briefe bringt, deutet sich bereits auf den ersten Blick an: Mehr als ein Drittel des Bandes besteht aus Anmerkungen, die die vielen Querverweise, die in Rimbauds Seher-Briefen angelegt sind, zu erhellen versuchen. Doch auch der zweite, kritische Blick enttäuscht nicht. Denn Eingangs- und Abschlussessay – Ersterer von Philippe Beck, Letzterer von Tim Trzaskalik – eröffnen dem Leser weitere Perspektiven auf die Seher-Briefe. Dies reflektiert das Literaturverständnis einer Zeit, in der sich seit Veröffentlichung der Briefe unvermindert Abhandlungen und kurze Texte – insbesondere viel gelesener (kontinentaler) Geisteswissenschaftler – vor allem auf den berühmt gewordenen Satz „Ich ist ein anderer“ (21) zu stürzen scheinen. Es braucht kein langes Studium, um diesem Satz zu begegnen, doch darüber hinaus findet sich nur selten eine Erläuterung, die aufklären könnte, was ihn so berühmt und zu einem paradigmatischen Ausruf zur Krise des Subjekts und zur Autonomie der Künste macht.

Die beiden Essays nun bedienen im Grunde zwei Frage-Typen, die beim Lesen der Briefe auf den Plan gerufen werden könnten: Trzaskalik geht den verborgenen intertextuellen und historischen Spuren nach, die Rimbaud als einen wohlbelesenen Gesellschafts- und Kulturkritiker erscheinen lassen. In diesem Sinne fungiert der Text als Vertiefung der Anmerkungen. Wer Interesse daran hat zu erfahren, wen Rimbaud verehrte und welchen Dichtern er nur Mitleid entgegenbringen konnte, oder wer wissen will, wie sich seine Autopoetik und der Satz „Ich ist ein anderer“ in die Diskurse des vergangenen Jahrhunderts einfügen und aus ihr herauslesen lassen, wird hier genügend Material erhalten.

Einen ganz anderen Versuch unternimmt Beck, der vom Verlag als „einer der wichtigsten zeitgenössischen Dichter französischer Sprache“ (Klappentext) vorgestellt wird. Es ist dieser Essay, der die vorliegende Neuübersetzung zu mehr als eben nur zu einer Neuübersetzung samt Erläuterungen macht. Beck ist nicht nur Dichter, sondern ebenso Philosophie-Professor an der Universität Nantes. Auf acht Seiten protokolliert er das Gedankenexperiment, Rimbauds Werk als eine „philosophische Anthropologie“ (6) zu denken. Dabei fällt zuallererst auf, dass keine Erzählung und Erklärung der Grundlage beabsichtigt scheint, sondern vielmehr das Akut der Forderung nach einer „Zügellosigkeit aller Sinne“ (6), die Rimbaud proklamiert, aufgreift, um diese weit aus dem Bereich der Dichtung hinauszuführen: „Das Transzendentale ist die Anspannung einer Seele in einem Körper. Die Zweckursache ist eine Fähigkeit zu sehen, eine Sichtung, das heißt ein aktiver Zustand des Seins im Modus des Gerundivs.“ (6f.) Mit Sätzen wie diesen wird der Leser an eine neue Generation von Denkern herangeführt, wie etwa Michael Anker (2011) oder eben Philippe Beck. Deren Ansätze stehen mitunter in einem Zusammenhang, der sich einerseits (bei Beck) aus Reflexionen zum Verhältnis von Subjekt und Objekt innerhalb der Philosophie, Anthropologie und Soziologie nährt und andererseits (bei Anker und Beck) Wahrnehmung und Denken in eine neue Beziehung zu setzen versucht. Rimbauds Seher-Briefe werden lesbar als der Versuch, nicht bloß innerhalb und durch die Dichtung, sondern vor allem auch durch die Forschung, und das heißt durch die performative Poetik, einer Epoche zu antworten und in diesem Sinne die „Neuheit im Denken der Menschen“ (10) zu ermöglichen: mittels der „Methode der Passage“ (12), die selbst die Wahrnehmung aus einer „stichhaltige[n] Gegenwärtigkeit“ heraus ist. Dem Dichter kommt dabei offenbar eine besonders wichtige Rolle zu: Er ist es, der „wahrlich ein Fortschrittsvervielfältiger“ (31) zu werden vermag.

Arthur Rimbaud: Die Zukunft der Dichtung. Die Seher-Briefe. Mit Essays von Philippe Beck und Tim Trzaskalik
Matthes & Seitz, 152 Seiten
Preis: 14,80 Euro
ISBN: 978-3-88221-545-8

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