„Du kannst darin ertrinken, aber du stirbst nicht daran“

Judith Vanistendael - Als David seine Stimme verlor   Cover: ReproduktIn Als David seine Stimme verlor setzt sich Judith Vanistendael mit dem Tod auseinander. Traurig und schön ist das – und mehr als nur Totentanz und klappernde Knochen.

von CHRISTIAN A. BACHMANN

Disclaimer: Der Autor dieser Rezension mag keine Aquarelle. Damit assoziiert er Mohnfelder bei Argenteuil und Seidenmalerei, wie sie in katholischen Pfarrsälen in mittleren Großstädten praktiziert wird. Nicht, dass der Verfasser jemals in Argenteuil oder einem Seidenmalkurs gewesen wäre (in katholischen Pfarrheimen mittlerer Großstädte durchaus) – er hat sich lediglich eine weitgehend auf Vorurteilen basierende, besonders abfällige Meinung darüber gebildet, die sich als so hartnäckig wie langlebig erwiesen hat. Der Autor schätzt darüber hinaus naive Zeichnungen nicht wirklich. Zeichnungen gefallen ihm besonders gut, wenn sie nach richtig viel Arbeit aussehen, nach Disziplin und Genauigkeit in der Ausführung. Judith Vanistendaels neues Buch Als David seine Stimme verlor ist in Aquarell und naivem Strich ausgeführt. Keine guten Voraussetzungen für diesen Rezensenten, sollte man also meinen.

Warum David seine Stimme verliert

David hat ein supraglotisches Larynxkarzinom – vulgo: Kehlkopfkrebs. David hat außerdem eine Freundin, zwei Töchter und eine Enkelin: Miriam, seine 24-jährige Tochter aus erster Ehe, Tamar, seine 8-jährige Tochter aus seiner Beziehung zu Paula, und Louise, Miriams Neugeborene. Was er nicht mehr hat, ist seine Stimme. Die verliert er jedoch nicht gleich, sondern erst nach einer langwierigen und schmerzhaften Therapie. Schon vorher ist der 54-jährige Buchhändler verschlossen und wortkarg und die vier Frauen haben damit ihre liebe Not. Von diesen auch aus anderen Gründen nicht immer einfachen Beziehungen erzählt die flämische Autorin in ihrem zweiten Buch in vier Kapiteln und einem Prolog. Am Tag, an dem Louise geboren wird, erfährt David, dass er krank ist, dass er – womöglich – sterben muss. Also zumindest früher als erwartet. Und unter größeren Schmerzen. Und nach einer anstrengenden onkologischen Therapie.

Du kannst darin ertrinken …

Das Feuilleton hat das Totentanzmotiv hervorgehoben, das Vanistendaels Comic zugrunde liege. Die Buchgestaltung scheint das zu bestätigen, indem sie die Erzählung durch die Wiederholung einer Szene rahmt, in der Miriam mit einem Skelett, also dem personifizierten Tod tanzt. Auch die Gliederung in einzelne Figuren fokussierende Kapitel kann als eine Modernisierung des ständischen, mit seiner Tradition in die Renaissance zurückreichenden Totentanzes verstanden werden. Doch der Danse Macabre ist nur eine Vanitasmetapher, die Vanistendael aktualisiert. Die Wassermetaphorik, präsent in Bootsfahrten, Flaschenpost, Waschungen, bis in die Aquarelltechnik, ist mindestens genauso bedeutend wie die tanzenden Gerippe.

Beide Metaphoriken sind Angebote, die der Comic macht, und dazu gesellen sich weitere sprachliche und bildliche. Deshalb ist der Bild und Schrift paarende Comic so gut geeignet, um diese Geschichte zu erzählen. Worüber der Mensch nicht sprechen kann, darüber kann er sprechen und zeichnen.

… aber du stirbst nicht daran

Es ist eine Binsenweisheit, dass wir Westeuropäer heute den Tod weitgehend aus unserem Leben verbannt haben. Da sich der Tod davon nicht weiter beeindrucken lässt, müssen wir uns doch immer einmal wieder mit ihm auseinandersetzen. Wir hören zwar täglich von hunderten Toten bei Gefechten in der Ukraine oder Syrien, aber die sind weit weg. Ihre Tode sind allenfalls auf eine abstrakte Weise verstörend. Ganz anders sieht es aus, wenn ein geliebter Angehöriger stirbt. Als David seine Stimme verlor nähert sich dem schwierigen Problem auf poetische Weise, mit sprachlichen und visuellen Metaphern. Es zeichnet das Buch aus, dass es bei aller Traurigkeit weder (sehr) düster noch kitschig ist.

So profan es auch klingen mag, der Preis des Buches soll zuletzt noch angesprochen werden, denn 34 Euro sind ein nicht ganz kleiner Betrag. Das Buch ist zwar voluminös, kommt aber nur auf rund 280 Seiten, die bei unvorsichtiger Lektüre in 30, 40 Minuten durchblättert sind. Wer die Ausgabe nicht scheut, dem sei nachdrücklich dazu geraten, langsam und mit Bedacht zu lesen, sich Zeit zu nehmen für die Bilder und nicht nur die Sprechblasen entlang zu rasen: Vanistendaels Buch ist eine Einladung, innezuhalten und zu reflektieren.

Übrigens mag der Verfasser Aquarelle und naive Zeichnungen jetzt lieber. Bitteschön.

Judith Vanistendael: Als David seine Stimme verlor
Reprodukt, 280 Seiten
Preis: 34 Euro
ISBN: 9783943143989

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