Deutschland, einig Hungerland

Stig Dagerman: Deutscher Herbst; Cover: Guggolz Verlag

Der 75-jährige Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs war zwar schon letztes Jahr, das hält die deutschsprachige Verlagslandschaft aber nicht ab, uns auch dieses Jahr noch mit ausländischen Reiseberichten aus dem Deutschland der Stunde Null zu versorgen. Neben George Orwell lädt uns auch Stig Dagerman mit Deutscher Herbst (schwed. Originaltitel: Tysk Höst. Resereportage från Tyskland 1946) ein, ihn auf eine Reise in deutsche Mondlandschaften zu begleiten. Uns erwarten: sehr viel Schutt, sehr viel Hunger, ein sprachliches Ausnahmetalent und die verschwimmende Grenze zwischen Journalistendasein und Literatentum.  

von CAROLIN KAISER

Gleich zwei Sammlungen von Reiseberichten ausländischer Schriftsteller über das Leben und Leiden im ausgebombten Nachkriegsdeutschland haben es diesen Herbst in deutschsprachige Buchläden geschafft. Da wären zum einen Reise durch Ruinen: eine Zusammenstellung der Reportagen, die George Orwell zwischen März und November 1945 für die britische Zeitung The Observer verfasst hat. Deutsche Übersetzungen einzelner Artikel gab es bereits vorher, der von C. H. Beck veröffentlichte Band ist aber die erste gesammelte Übersetzung und Veröffentlichung der Reportagereihe. Im Gegensatz zu Orwell, einem der bekanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, stammt die zweite Veröffentlichung von einem Autor, der zumindest im deutschsprachigen Raum weniger bekannt ist: Stig Dagerman. Der Schwede wurde ebenfalls von einer Tageszeitung als Berichterstatter in das frühzeitig beendete „Tausendjährige Reich“ geschickt, um von der Stimmung vor Ort zu berichten. Vom 15. Oktober bis 10. Dezember 1946 reiste der damals erst 23-jährige Shootingstar der schwedischen Literatur quer durch Deutschland, während in den Zeitungen seines Heimatlandes sein zweiter Roman Die Insel der Verdammten (schwed. Originaltitel: De dömdas ö) kontrovers diskutiert wurde. Was Dagerman im Elend des militärisch und moralisch besiegten Deutschlands noch nicht ahnen kann – diese Reisereportage wird sein kommerzieller Durchbruch werden.    

„Hunger ist ja eine Form von Unzurechnungsfähigkeit“

In 13 Reiseberichten schildert Dagerman die Eindrücke und Beobachtungen, die er bei seiner Rundreise sowohl vom Land als auch von seinen Bewohnern gemacht hat. Mal geht es in „etwas, das aussieht wie eine gigantische Müllkippe für Hausgiebel“ (das ist Hamburg), mal zu einem adligen Jungschriftsteller, der sich mit hunderten von Büchern in einem Wald nahe des Elendshotspots Ruhrgebiet verschanzt hat, um einen authentischen Barockroman zu verfassen (Wolf von Niebelschütz für alle Barockfans), und ein anderes Mal geht es zu einem Entnazifizierungsprozess, der abrupt abgebrochen wird, als sich herausstellt, dass der Angeklagte – zweifelsohne ein Nazi – momentan für die alliierte Militärregierung arbeitet – und die stellen ja wohl keine Nazis an! Es geht um junge Frauen, die sich für ein bisschen Schokolade und Konserven an ausländische Soldaten verkaufen; um ein unterhaltungssüchtiges Land, in dem sich keiner Unterhaltung leisten kann; um eine Jugend, die die alte Generation für den Nationalsozialismus anklagt, aber selbst nichts anderes kennt; um eine Gesellschaft, der der Militarismus durch eine Militärregierung ausgetrieben werden soll; und es geht letztlich auch um einen jungen schwedischen Literaten, der mit seiner eigenen Rolle als Journalist hadert. Dem wohlgemeinten Rat eines französischen Kollegen, um der journalistischen Objektivität willen nicht mit der deutschen Bevölkerung selbst zu sprechen, sondern stattdessen ausschließlich die Zeitungen zu lesen, mag sich Dagerman nicht anschließen. Stattdessen sucht er den direkten Kontakt mit der Bevölkerung und reflektiert seinen eigenen Status als vermeintlich objektiver Beobachter. So empfindet Dagerman instinktiv „Wut, Ekel und Verachtung“, als eine deutsche Familie, die in einem mit Regenwasser vollgelaufenen Kellerloch haust, die Frage bejaht, ob es ihnen unter Hitler besser gegangen sei. Auch habe er „nichts gehört, was abstoßender war als die Bemerkung eines Bankdirektors in Hamburg, der fand, die Norweger sollten eigentlich dankbar sein für die deutsche Besatzung, weil diese ihnen eine ganze Reihe von Gebirgsstraßen beschert habe!“ Nichtsdestotrotz nimmt er eine fast schon erschreckend empathische Einstellung gegenüber der deutschen Bevölkerung ein. Die Annahme, alle Deutschen seien hoffnungslos mit NS-Gedankengut infiziert, weil eine deutsche Familie angibt, unter der Diktatur mehr zu Essen gehabt zu haben, lässt Dagerman nicht als neutrale Beobachtung zu. „[I]n Wahrheit ist es Erpressung, die politische Einstellung des Hungrigen zu analysieren, ohne gleichzeitig auch den Hunger einer Analyse zu unterziehen.“     

Ein Anarchist im ehemaligen Faschowunderland

Dass Dagerman einem Land, das gerade erst einen Völkermord und einen menschenverachtenden Vernichtungskrieg begangen hat, so wohlgesonnen ist, lässt sich nicht nur damit erklären, dass Schweden als neutrales Land vergleichsweise glimpflich durch den Zweiten Weltkrieg gekommen ist. Auch Dagermans Leben selbst erklärt, warum er in Deutschland mehr sah als nur hastig verhüllte Hakenkreuzarmbinden. Dagerman war zu der Zeit mit einer jungen Deutschen verheiratet, die zusammen mit ihren Eltern aus politischen Gründen schon in den 1930ern nach Schweden geflohen war. Wie auch Dagerman selbst waren seine Frau und ihre Eltern Anarchosyndikalisten, also Anarchisten, die mittels Gewerkschaften eine klassen- und staatenlose Gesellschaftsordnung anstreben. In Schweden wohnte Dagerman bei seinen Schwiegereltern, wo er neben der deutschen Sprache auch das antifaschistische Deutschland kennenlernte. Auf die Kontakte seiner Schwiegereltern in Deutschland und speziell auf jene zu ebendiesen anarchistisch-gewerkschaftlichen Kreisen griff Dagerman auf seiner Reise im Herbst 1946 zurück. In einem Land, wo jeder angeblich zwischen 1933 und 1945 mit einem Bein im Konzentrationslager stand, übernachtete Dagerman viele Nächte bei Leuten, die tatsächlich mit beiden Beinen in KZs gestanden hatten. Seine dezidiert antimilitaristische, antinationalistische und antikapitalistische Einstellung machte ihn darüber hinaus besonders empfänglich für das Leid und gerade den Hunger, der in Deutschland in so gut wie allen Gesellschaftsschichten herrschte. Von den Demokratisierungsstrategien der Alliierten hielt Dagerman daher wenig: „Die Voraussetzung für die Demokratie hießen nicht freie Wahlen, sondern eine verbesserte Versorgungssituation und ein Dasein mit Hoffnung. Alles, was dieses Dasein hoffnungsloser machte […], trug auch dazu bei, den Nährboden für eine Demokratie unfruchtbarer“ zu machen. Aber auch den immer noch vorhandenen Nationalismus im Weltbild vieler Deutscher beäugt Dagerman kritisch. So stellt er beispielsweise fest, dass einige SPD-Wähler weniger sozialdemokratischen als vielmehr deutschnationalen Ansichten zuneigten, und ihre wahre Gesinnung mit Genugtuung durch das Wählen einer demokratischen Partei verschleierten. Dem SPD-Kanzlerkandidaten Kurt Schumacher, der forderte, die ehemaligen deutschen Gebiete jenseits der Oder wieder zum Teil Deutschlands zu machen, fallen Dagermans Sympathien daher eher weniger zu.    

Sprachliche Feinkost und die Scham der Gesättigten

Neben Dagermans vielschichtiger Perspektive auf seine Umgebung und seine eigene Rolle in ihr besticht Deutscher Herbst durch seine literarische Qualität. Dagerman, der sich mit nur 30 Jahren 1954 das Leben nahm, gilt nicht zu Unrecht als einer der talentiertesten schwedischsprachigen Schriftsteller der 1940er Jahre, wenn nicht sogar des gesamten 20. Jahrhunderts. Mit nur wenigen Sätzen gelingt es Dagerman, die sich vor ihm auftuenden Szenerien für die Lesenden sowohl in bildlicher als auch in emotionaler Hinsicht einzufangen. Ein Beispiel: „Den ganzen Herbst über trafen Züge voller Ostflüchtlinge in den Westzonen ein. Zerlumpte, hungrige und unwillkommene Menschen wurden in dunklen, stinkenden Bahnhofsbunkern zusammengepfercht, die wie viereckige Gasometer aussehen und sich in eingestürzten deutschen Städten als gewaltige Monumente über die Niederlage erheben.“ Dem Übersetzer Paul Berf muss dabei das Lob ausgesprochen werden, Dagermans Hang zu Neben- und Schachtelsätzen in übersichtliche, sogar elegante Bahnen gelenkt zu haben. Auch die Auswahl an Briefen, die Dagerman während seiner Deutschlandreise an seine Familie und Freunde in Schweden schickte, sind positiv an dieser Neuübersetzung und Neuauflage hervorzuheben. Indem sie einen Einblick in Dagermans persönliches Leben geben, komplementieren sie den Originaltext, der im skandinavischen Raum regelmäßig neuaufgelegt wird und den als Romanautor manchmal verkopften Dagerman vom Kritiker- zum Publikumsliebling katapultierte. Schon der eigentliche Text von Deutscher Herbst ist sonderbar persönlich, selbst wenn sein Autor sich offensichtlich größte Mühe gegeben hat, sich der Rolle des neutralen, lediglich beobachtenden Journalisten anzunähern. Die Briefe spiegeln diesen Eindruck wider und geben einen Einblick in den Entstehungsprozess des Textes, aber auch in Dagermans emotionale Verfassung: sein Heimweh, die Neugierde auf die Rezensionen zu seinem neuen Roman, die Sehnsucht nach seiner jungen Familie und vor allem die Scham, der einzige Satte in einem Land der Hungrigen zu sein. Aber die Anstrengungen haben sich gelohnt. Mit Deutscher Herbst hat Dagerman gezeigt, dass auch die oftmals literarisch missachtete Sachprosa sprachliche Feinkost sein kann. Schlagen Sie zu, es herrscht kein Hunger mehr.

Stig Dagerman: Deutscher Herbst. Aus dem Schwedischen, mit einer Briefauswahl und einem Nachwort von Paul Berf
Guggolz Verlag, 190 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 9783945370315

George Orwell: Reise durch Ruinen. Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945. Mit einem Nachwort von Volker Ullrich. Aus dem Englischen übersetzt von Lutz-W. Wolff
C.H. Beck, 111 Seiten
Preis: 16,00 Euro
ISBN: 9783406776991

3 Gedanken zu „Deutschland, einig Hungerland

  1. Lieben Dank für diese Einblicke in die Außensicht auf Nachkriegsdeutschland! Diese Perspektive war mir vorher noch nicht sonderlich geläufig, spielt sie doch in vielen Geschichtsdarstellungen keine Rolle. Der sozialgeschichtliche Ansatz, ganze Bevölkerungsgruppen oder Milieus abzubilden, zu dem ich auch Dagermans Werk zählen würde, wird – denke ich – in den kommenden Jahrzehnten noch einiges Neues an Erkenntnissen liefern.

    Für Interessierte kann ich Sönke Neitzels und Harald Welzers Buch „Soldaten“ empfehlen. Das Buch hat natürlich nicht den literarischen Wert eines Dagermans, doch liefert es wichtige Einblicke in den Gedankenkosmos eines durchschnittlichen Soldaten, diese wurden nämlich ohne ihr Wissen in Kriegsgefangenschaft von den Briten abgehört. In meinen Augen wird dadurch sichtbar, dass vielen Deutschen doch sehr gut der Unterschied zwischen Recht und Unrecht bekannt war und dass sie ihr Verhalten vor Außenstehenden an eine Norm anpassen mussten, die die nationalsozialistischen Exzesse auch für Fremde vermeintlich rechtfertigen. Vor allen Dingen ist nach meinem Dafürhalten Hannah Arendts Diktum der „Banalität des Bösen“ falsch: Adolf Eichmann und Co. hatten sehr wohl das nationalsozialistische Weltbild gelebt und selbst im Privaten durch und durch vertreten – und nicht etwa, wie ausgesprochen viele von ihnen behaupteten, „nur Befehle befolgt“.

    Übertragen auf Dagermans Beobachtungen würde ich behaupten, dass er sicherlich Recht hat mit seiner Feststellung, dass die deutsche Bevölkerung differenziert betrachtet werden muss. Abhängig vom Milieu lassen sich sicherlich unterschiedliche Feststellungen tätigen: Die Wehrmachtssoldaten haben andere Erfahrungshorizonte als ehemaliger SPDler und Gewerkschafter, die ja oftmals selbst den Verfolgungen des NS-Regimes ausgesetzt waren.

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