Die unendlichen Weiten der Fantasie

Jorge Luis Borges (1899–1986) im Jahre 1976

Jorge Luis Borges war ein Meister des prägnanten Wortes. In seinen Erzählungen gelang es ihm, seine Leser an die Grenzen der Vorstellungskraft zu treiben. Neben seiner überbordenden Vorstellungskraft rekurrierte der argentinische Begründer der lateinamerikanischen Fantastik auf einen reichhaltigen Fundus an literarischen und philosophischen Bezugstexten – in diesem Wortelabyrinth kann man sich verirren!

von THOMAS STÖCK

„Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.“

Es kommt nicht von ungefähr, dass Jorge Francisco Isidoro Luis Borges Acevedo – geboren am 24. August 1899 und damit heute exakt 123 Jahre und einen Tag alt – ausgerechnet Bibliotheken als Paradies auserkiest. In all den Texten, die ich über den Argentinier gelesen habe, wurde leider nicht überliefert, ob er neben dem Lesen und Schreiben auch Zeit für weltliche Bedürfnisse wie Essen und Schlafen fand. Dabei mag es überraschen, dass ein Schriftsteller wie Borges, der beim Ein- und Ausatmen die Lettern von den Seiten löst und sie anschließend erneut aufs Papier haucht, uns nicht einen einzigen Roman hinterlassen hat. Gedichte, Essays, Erzählungen, die kurze Form – das war Borges’ Metier.

Eine Erzählung ist es auch, die uns wieder zurück in die Bibliothek führt. Sie trägt den Namen Die Bibliothek von Babel (Orig.: La Biblioteca de Babel) und ist einigermaßen schwer aufzufinden. Das liegt daran, dass Borges selbst ein zweites Werk mit dem gleichen Namen publiziert hat, nämlich eine Buchreihe fantastischer Literatur (auch eine Lektüre wert, aber ein Thema für ein anderes Porträt!). Die Erzählung von der Bibliothek von Babel umfasst nur wenige Seiten, die es aber in sich haben: Borges lädt uns ein in eine Welt, die aus einer unendlich großen Bibliothek besteht. Sie müssen sich vorstellen: Sie blicken nach oben, nach unten, nach links und rechts und überall sehen Sie Bücher. Scheinbar steckt hinter den vielen Büchern kein ordnendes System und viele Bücher ergeben nicht einmal einen Sinn. Und doch steht in dieser Bibliothek jedes einzelne Wort, das jemals niedergeschrieben wurde. Es gibt sogar ein Buch, in dem alle Bücher niedergeschrieben sind, die in die Bibliothek von Babel Eingang fanden! Nicht mehr als ein unsinniges Gedankenspiel? Nun, der unendlichen Buchproduktion nähern wir uns stetig an, insbesondere durch maschinelle Automatisierung. Und jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie verfassen einen Roman und dieser wird Wort für Wort auch von einer Maschine oder von einem anderen Menschen niedergeschrieben – gänzlich unabhängig von Ihrem Roman. Warum soll man überhaupt noch schreiben, wenn früher oder später eh alles gesagt sein wird?

Als Don Quijote das erzählerische Rad neuerfand

Doch genug der Bibliotheken. Verweilen wir lieber bei Fragen der Autorschaft, denn auch damit hat Borges sich gern beschäftigt. In den Titel einer Kurzgeschichte fand dieses Thema sogar Aufnahme nämlich in Pierre Menard, Autor des Quijote (Orig.: Pierre Menard, autor del Quijote). In dieser Erzählung entspinnt sich das Auffinden von Texten, die aus der Feder eines fiktiven Autors mit dem Namen Pierre Menard stammen. Dieser Pierre Menard hat es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, den Don Quijote von Miguel de Cervantes nachzuerzählen. Ursprünglich hatte er vor, das Werk in die Welt des 17. Jahrhunderts zurückzuversetzen, aus der Cervantes stammt, doch dann wollte er stattdessen selbst Don Quijote neu erzählen.

Von dieser Neudichtung findet der namenlose Erzähler nur Bruchstücke auf, die jedoch vollkommen ausreichen, um den Rückschluss zu ziehen, dass der neue Don Quijote viel mehr Tiefgang aufweist als der aus Cervantes’ Feder. Schließlich gleicht dieser neue Don Quijote in den Auszügen dem Original – Wort für Wort, bis auf jedes einzelne Zeichen. Auch hier ist also wieder Ihre Vorstellungskraft gefragt. Stellen Sie sich einmal vor, nicht Miguel de Cervantes, ein geistiges Kind des 16. und 17. Jahrhunderts, hätte Don Quijote in die literarische Welt eingeführt – sondern jemand, der den Ersten und Zweiten Weltkrieg miterlebt hat, den Spanischen Bürgerkrieg etc. pp. Ist es nicht faszinierend, dass dieser hypothetische Autor oder diese hypothetische Autorin eine Sprache erdichtet, die sich perfekt in die Gesellschaft des 17. Jahrhunderts fügt? Und jetzt treiben Sie dieses Gedankenspiel auf die Spitze und sprechen den Don Quijote einer berühmten Persönlichkeit zu: Marie Curie hat nicht nur Polonium entdeckt, sondern auch noch einen vorzüglichen Roman in einer Sprache verfasst, die sie nicht einmal gesprochen hat! Eine unglaubliche Vorstellung? Borges’ unmögliche Welten führen uns ein in die Faszination des Fantastischen.

Meine Empfehlungen:

Jorge Luis Borges: Das Gesamtwerk. Herausgegeben und neu übersetzt von Gisbert Haefs und Fritz Arnold
Carl Hanser Verlag, 12 Bände (besonders Band 5 und 6!)
1999–2009 erschienen

Ein Gedanke zu „Die unendlichen Weiten der Fantasie

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