Europas traumatisches Schicksal mit poetischer Kraft erzählt

COVER_Zweig_Welt von gesternWas uns Stefan Zweig in seiner großen, posthum veröffentlichten Autobiographie Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers mitteilt, lässt sich weder als trockener historischer Bericht noch als sentimentale Zeitreise abstempeln. Die Entwicklung unseres Kontinents ist in knapp 500 Seiten dargelegt, voll von subjektiven Impressionen eines wachsamen Schriftstellerauges, frei von jeglicher Zeigefingermoral.

von HELGE KREISKÖTHER

Stefan Zweig war Österreicher. Als solcher erlebte er noch die letzten, von Heiterkeit und Sicherheit geprägten Jahre der Habsburgermonarchie. Als sich jedoch die Schatten des Ersten Weltkriegs ankündigen, merkt er als empfindsamer Freigeist schnell, wie sich die Individualisten seines Umfelds, auch die ehemals engsten Freunde, in aufgehetzte Nationalisten verwandeln.
Selbst für untauglich befunden, zwingt der Krieg Zweig dennoch zu mehrfachen Wohnortswechseln. Außerdem sieht er sich im Laufe der Jahre – vor allem wegen seiner jüdischen Herkunft – immer wieder Anfeindungen ausgesetzt, wird dennoch nicht zum Misanthropen, sondern sucht und findet geistig Verbündete. Seine weit gefächerten, treu aufrechterhaltenen Beziehungen zu Rainer Maria Rilke, Romain Rolland, Émile Verhaeren, dem Komponisten Richard Strauss und vielen anderen zeugen von seiner unmissverständlichen Lebenseinstellung als Kosmopolit. Gerade für Komparatisten macht ihn das, so sollte man meinen, zu einem Vorbild in Sachen wahrer (geistiger) Vereinigung Europas.

Unverkennbares

Was diese Autobiographie auszeichnet, sind Zweigs Beobachtungsgabe und sein überaus anrührender, wenn nötig scharfer, aber stets schwungvoller Schreibstil, der dem einen oder anderen vielleicht noch aus der Lektüre der Schachnovelle oder aus der Beschäftigung mit den Sternstunden der Menschheit in Erinnerung geblieben ist. Seien es die Schuljahre, aus denen er uns die literarischen Vorlieben seiner Klassenkameraden lebendig zu machen weiß, die schwierigen Anfänge an der akademisch vertrockneten Universität oder die ersten selbstkritischen Schritte auf dem Weg zum Autorendasein – alles bleibt mitfühlbar, wirkt niemals wehleidig. Hinzu kommen tiefsinnige Zwischenbemerkungen wie die folgende zu Beginn des poetisch überschriebenen Kapitels Umwege auf dem Wege zu mir selbst: „Paris, England, Italien, Spanien, Belgien, Holland, dies neugierige Wandern und Zigeunern war an sich erfreulich und in vieler Hinsicht ergiebig gewesen. Aber schließlich benötigt man doch – wann wußte ich es besser als heute, da mein Wandern durch die Welt kein freiwilliges mehr ist, sondern ein Gejagtsein? – einen stabilen Punkt, von dem aus man wandert, und zu dem man immer wieder zurückkehrt.“
Zahllose Begegnungen mit diversen Geistesgrößen – von Sigmund Freud bis Tolstoi, von Hofmannsthal bis George Bernhard Shaw – prägen diesen unbeschönigt dargestellten Lebenslauf, der selbst so viele Werke über die Lebensläufe anderer literarischer wie politischer Genies hervorbrachte. Abgesehen von Goethe, seinem größten Idol, interessierten Zweig meist die von der Geschichte vernachlässigten Persönlichkeiten, welche zu Unrecht im Schatten der „Größeren“ standen und stehen.

Ein Ende in Schrecken und Versöhnung

Er selbst wurde schließlich im Zuge des Krieges, wie viele andere Zeitgenossen, zum Heimatlosen, zum Spielball einer historisch verhängnisvollen Epoche. Die glücklichen, friedensvollen Zeiten vor bzw. zwischen den beiden Weltkriegen werden dem Leser nahezu sehnsüchtig ins Gedächtnis gebracht, bevor das Buch mit Incipit Hitler letztlich einen Lebensabschnitt darlegt, dem Zweig endgültig entfliehen musste, nämlich ins Exil nach Brasilien. Letzteres wird in der Welt von Gestern aber nicht mehr erwähnt, der Fokus bleibt bis zum versöhnlichen, nahezu hymnisch wirkenden Schlusswort auf Europa. Was durchaus bemerkenswert erscheint, wenn man bedenkt, dass sich Zweig Anfang 1942 im Exil das Leben nahm.
Die Hoffnung auf Frieden hat er nicht aufgegeben, sie geht auch diesem Buch niemals verloren, trotz der zweifach miterlebten Selbst-Zerfleischung seines Heimatkontinents. Vielleicht war es die Hingabe zur Kunst, die Zweig zwar nicht im Leben halten, aber ihn dennoch für die Nachwelt zu einem Vordenker und Versöhner, zu einem wahrhaft großen europäischen Schriftsteller machen konnte, denn „[…] jeder Schatten ist im letzten doch auch Kind des Lichts, und nur wer Helles und Dunkles, Krieg und Frieden, Aufstieg und Niedergang erfahren, nur der hat wahrhaft gelebt.“

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers.
Fischer Taschenbuch Verlag, 512 Seiten
Preis: 11,95€
ISBN: 978-3-596-21152-4

3 Gedanken zu „Europas traumatisches Schicksal mit poetischer Kraft erzählt

  1. Das Buch hat mir richtig gut gefallen. Es war meine erste Begegnung mit Stefan Zweig. Ich las es für ein Referat zur Vorkriegszeit. Leider bin ich bisher immer noch nicht dazu gekommen, mal richtig in sein literarisches Werk einzutauchen. Dieser Artikel hat mich auf jeden Fall daran erinnert, dass ich das baldigst tun muss.

    Herzlichen Dank und liebe Grüße

    Melanie

    • Interessant, dass Du als erstes von Zweigs Werken gelesen hast …aber sicherlich ein Vorteil, denn nun steht Dir erst recht sein übriges Schaffen offen! Vielen Dank für die positive Rückmeldung.
      LG

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