„Eine unheimliche Wand, durch welche die Sprache nicht recht dringt“

Anne Weber - Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch   Cover: S. FischerEin „Zeitreisetagebuch“ verspricht der Untertitel von Anne Webers essayistisch-erzählerischem Prosatext Ahnen, in dem die Autorin sich auf die Suche nach den Spuren des Lebens ihres 1924 verstorbenen Urgroßvaters begibt. Doch anders als in H. G. Wells’ The Time-Machine und anderen Klassikern des Zeitreise-Genres wird der Leser hier nicht in die Vergangenheit katapultiert; vielmehr gelingt das Spürbarwerden des Vergangenen nur sehr tastend und unter Wahrung einer unaufhebbaren Distanz.

von BERNHARD STRICKER

Wir folgen in Ahnen der Autorin Anne Weber bei ihren Recherchen zum Leben ihres 1924 verstorbenen Urgroßvaters Florens Christian Rang. Nachdem er zunächst eine sichere Beamtenlaufbahn eingeschlagen hatte, ging Rang zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts als evangelischer Pastor in die damals ostpreußischen (heute polnischen) Gebiete und beteiligte sich an der dort unternommenen Verbreitung der deutschen Kultur. Seine heute in Vergessenheit geratenen Schriften lassen einen Mann erahnen, der noch sehr lebhaft die Kluft zwischen dem Idealen und dem Realen zu spüren vermochte.

Die Abgründe der Geschichte

Doch nicht einfach um ihn der Vergessenheit zu entreißen, bringt uns das Buch diesen Zeitgenossen und Freund so berühmter Gestalten wie Walter Benjamin, Martin Buber oder Hugo von Hofmannsthal nahe, sondern um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – so weit die Geschichte dies zulässt, die ihn und uns zugleich verbindet und trennt. Denn während wir die Autorin auf ihrem Weg durch Berliner Archive und über polnische Friedhöfe begleiten, drängt sich immer wieder die deutsche Geschichte in Gestalt des nationalsozialistisch gesinnten Großvaters zwischen Anne Weber und ihren Urahn. Die Frage, die sie umtreibt, lautet: Wie konnte der Sohn dieses bemerkenswerten Mannes, der mit zahlreichen jüdischen Intellektuellen verkehrte, zum Anhänger einer so menschenverachtenden Ideologie werden?

Am Leitfaden der Worte

In Anlehnung an den gleichnamigen Vogel verleiht Anne Weber ihrem Urgroßvater im Buch den Namen „Sanderling“ – nicht jedoch, um die Dinge nicht beim Namen zu nennen oder den Ahnen mit fremden Federn zu schmücken, sondern um daran zu erinnern, dass ein Name kaum jemals die wirkliche Gegenwart des Benannten verbürgt. Beinahe ist man als Leser überrascht, in diesem Erinnerungstext, der in vielerlei Hinsicht den Arbeiten W.G. Sebalds und Alexander Kluges ähnelt, keinerlei photographische Dokumente zu finden. Doch Anne Webers Element ist die Sprache, und so nähert sie sich der Vergangenheit allein am Leitfaden der Worte. Wie weit diese führen und ob sie nicht auch in die Irre gehen können, dieser Frage spürt das Buch immer wieder nach.

Die mittlerweile seit über 30 Jahren in Paris lebende Anne Weber verfasst ihre eigenen Texte teils auf Deutsch, teils auf Französisch und trägt mit ihren Übersetzungen von französischer und deutscher Gegenwartsliteratur maßgeblich zur literarischen Landschaft beider Länder bei (mit Übersetzungen etwa von Pierre Michon, Éric Chevillard, Wilhelm Genazino und Sibylle Lewitscharoff – oder auch von Georges Perros’ herrlichem Romangedicht Une vie ordinaire, unter dem Titel Luftschnappen war sein Beruf bei Matthes und Seitz erschienen). Wer Walter Benjamins Texte kennt, auf die Anne Weber sich immer wieder bezieht, weiß, dass der Raum zwischen den Sprachen, den sie solcherart behauptet, nicht bloß der Kulturvermittlung dient, sondern den Ort  – oder Nicht-Ort – einer eventuellen Wahrheit der Geschichte darstellt.

Gefahren der Nähe und Distanz

Eine Stelle im Tagebuch von „Sanderling“ gibt Anne Weber zu denken: Der Urgroßvater berichtet dort von dem Besuch in einer Irrenanstalt und stellt Überlegungen dazu an, ob es tatsächlich sinnvoll sei, das Leben dieser „Arbeitsunfähigen und in höherem Sinn Lebensunfähigen“ zu erhalten. „Warum vergiften Sie diese Menschen nicht?“, fragt der Urahn den Anstaltswärter. Das trifft Anne Weber wie ein Schlag. Bisher war sie stets nur darum bemüht, die wesentliche Diskontinuität der Geschichte zu markieren und damit die Unmöglichkeit, eine einfache Verbindung zwischen ihrer Gegenwart und der Vorkriegs-Lebenswelt ihres Urgroßvaters herzustellen. Die vermeintlich mühelose Einfühlung in das Vergangene erschien ihr aus ethischen Gründen hochgradig suspekt. Doch nun sieht sie sich vor den Verdacht gestellt, dass es zwischen ihrem Urgroßvater und seinem nationalistisch gesinnten Sohn eine mehr als nur biologische Abstammungslinie gegeben haben könnte, eine Verwandtschaft und Kontinuität der ideologischen Anschauungen. Wie die Autorin darüber zur Einsicht in das Verkürzende und Einseitige ihrer bislang bloß auf die Fremdheit des Vergangenen bedachten Reflexionen gelangt, macht die gedankliche Dramatik dieses historisch-autobiographischen Essays aus. In eindrucksvoller Weise gelingt es Anne Weber, dem Leser die beunruhigende Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen historischer Erkenntnis anschaulich werden zu lassen. Unübertrefflich sind vor allem die Passagen, in denen Anne Weber schließlich im Gewissen einen Zugang zur Geschichte entdeckt, der diese nicht auf eine – schuldhafte oder schuldlose – Identität festlegt, sondern in ihr eine Bewegung moralischer Verunsicherung sichtbar werden lässt, die eine Brücke zur Gegenwart schlägt: „So hebt das Gewissen die Zeit auf. Von einem, der diesen Fremden in sich entknebelt und zu Wort kommen lässt, trennt mich keine Zeit. Er ist mein Mit-Mensch, so fern er mir auch stehen mag: Der Fremde, der in ihm wohnt, ist mir vertrauter als er selbst; er ist unser gemeinsamer Freund und Feind.“

Dennoch bleibt der Urgroßvater für den Leser bis zum Ende des Buches eine Phantomgestalt. Und das liegt nicht zuletzt daran, dass die Gelehrsamkeit und die Sprachsensibilität der Autorin ihr manchmal auch bei der Entfaltung eines erzählerischen oder gedanklichen roten Fadens im Weg stehen. Die augenfällige Bedeutung Walter Benjamins muss so noch eigens durch eine beiläufige Interpretation seiner Thesen Über den Begriff der Geschichte unterstrichen werden. Und das beständige Stolpern der Autorin über Wörter, ihre Gleichklänge im Französischen und Deutschen sowie die daraus entstehenden Sinnzusammenhänge (z.B. boche/Bosch) erscheinen bisweilen doch eher unmotiviert.

Meine Ahnen, deine Ahnen… unsere Ahnen?

Immer wieder musste ich, der Rezensent, beim Lesen von Ahnen an meinen eigenen Großvater denken, der 15 Jahre vor meiner Geburt gestorben ist und dessen Vornamen ich trage. Von seinem Kriegstagebuch, das er in einer an Robert Walsers Mikrogramme erinnernden Miniaturschrift in französischer Kriegsgefangenschaft verfasst hat, besitze ich heute eine von meiner Großmutter angefertigte Abschrift. Mehr als die Erzählung der Familiengeschichte darin und mehr als das völlige Schweigen über die Zustände in der Gefangenschaft, die dem Verfasser bei der Niederschrift vor Augen gestanden haben müssen, frappiert mich heute bei der Lektüre des Tagebuchs die Fremdheit des Ausdrucks, der in meinen Ohren mal steif, mal hochtrabend und dann wieder gekünstelt wirkt. Von der Verwurzelung im „christkatholischen Deutschtum“ ist da die Rede, ein Wort, von dem Anne Weber sagt, dass es „nur noch mit Hilfe einer Anführungszeichen-Pinzette angefasst und bis in die Gegenwart gezogen werden kann.“ Kurz bevor ich vor zwei Jahren zu einem längeren Studienaufenthalt nach Tours in Frankreich aufbrach, musste ich feststellen, dass mein Großvater vor mir schon dort gewesen war: Ich fand ein Foto, auf dem er in Militäruniform zu sehen ist und das auf der Rückseite datiert ist auf „Tours 1944“.

Vielen Lesern von Anne Webers neuem Buch mag es ähnlich gehen, dass sie sich beim Lesen an ihre eigene Familiengeschichte erinnern, die wir nicht umhinkönnen, auch als Teil einer allgemeineren Geschichte zu begreifen. Ob diese Geschichte aber für immer entlang der Linien von Länder- oder Sprachgrenzen begriffen werden muss und uns so in eine unabänderliche Genealogie schuldhafter Identität festschreibt? Am Ende ihres Buches verleiht Anne Weber der Hoffnung Ausdruck, dass die Verbindung zur Vergangenheit in Gestalt unserer Ahnen nicht auf ewig die Form einer trennenden Wand zwischen Ideologien oder Nationen annehmen müsse, deren Abkömmlinge wir – bewusst oder unbewusst – sind, sondern dass wir die Vergangenheit durch die Erinnerung in ein gemeinschaftliches Erbe – unsere Ahnen – zu verwandeln vermögen.

Anne Weber: Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch
S. Fischer Verlag, 268 Seiten
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3100022479

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