Versprochen gebrochen

Vicente Alfonso: Die Tränen von San Lorenzo

Vicente Alfonso – Die Tränen von San Lorenzo Cover: Unionsverlag

Ist es Mord oder Magischer Realismus? Die Ayala-Zwillinge gleichen sich äußerlich, als ob sie von den Elixieren des Teufels getrunken hätten – doch ihre Geschichte ist nicht mystisch, sie ist eine leicht ausgeschmückte Krankenakte eines zu beeinflussbaren Psychiaters.

von CAROLINE KÖNIGS

Draußen tobt das Straßenfest, doch die Fenster im Saal sind abgedichtet. Der Zauberer Padilla betritt zusammen mit dem Entfesselungskünstler Rómulo die Bühne. Ein Schild forderte das Publikum auf, Schlösser und Ketten mitzubringen. Rómulo werden Hand- und Fußschellen angelegt, bevor er in einen Wasserbottich gesperrt wird. Ein oft geprobter Trick: Der Entfesselungskünstler müsste nun auf der Bühne auftauchen, doch Rómulo ist verschwunden, weder auf der Bühne noch im Bottich ist er zu sehen und dann „überstürzen sich die Ereignisse. Die Zufallsassistentin sieht sich ratlos um. Draußen mischt sich Glockengeläut in das Geräusch der Trommeln. Und das Gesicht des Zauberers verfinstert sich, als spürte er auf einen Schlag die Last all der Jahre harter Arbeit.“

Diese zauberhaft anmutenden und sinnlich beschriebenen Ereignisse werden im ersten Kapitel erzählt. Sie erwecken die Leselust und bauen eine Erwartungshaltung von übernatürlichen Ereignissen und Geheimnissen auf, die unseren Verstand übersteigen. Doch bald wird beim Lesen ersichtlich, dass dieser Roman bewusst mit den Erwartungshaltungen spielt. Es ist keine Magie, die den Entfesselungskünstler verschwinden lässt, sondern die weltliche Liebe zu einer Frau. Zu dieser fühlt sich jedoch auch sein Zwillingsbruder Remo hingezogen, was den Entfesselungskünstler zum Durchbrennen treibt. Auch das Motiv der Zwillinge, beziehungsweise Doppelgänger weckt große Erwartungen. Wird einer der beiden wie ein Kapellmeister vor seinem unheimlichen Schatten fliehen, wird es mystische Wölfinnen, Spechte und die Gründung von Rom geben, geht ihre körperliche Ähnlichkeit über die biologische Erklärbarkeit hinaus wie beim Geschichtslehrer Alfonso (José Saramago O Homem Duplicado)? Die Antwort beinhaltet nichts Übernatürliches, sondern eine psychologische Untersuchung und ein Herunterbrechen dieses sagenumwobenen Stoffes auf eine Liebesgeschichte.

Eine beinah erklärbare Geschichte

Natürlich war dem mexikanischen Schriftsteller Alfonso bewusst, dass er den einen oder anderen enttäuschen würde mit der Aufdeckung, kein magisches, sondern ein psychologisches Buch über die menschliche Wahrnehmung zu lesen. So wird der Leser zunächst immer wieder zu abenteuerlichen Spekulationen angeregt, die aber fast immer widerlegt werden. Die im Klappentext groß angekündigte heilige Niña, eine Wahrsagerin, verliert im Prozess des Erwachsenwerdens ihren Glauben und wird von einer angebeteten Heiligen zur Ehefrau von dem Ex-Entfesselungskünstler. Ihre übernatürlichen Kräfte werden zum Wunschdenken ihrer Anhänger. Die Struktur des Kriminalromans löscht die Hoffnung auf den Magischen Realismus aus. Dem Leser werden nach und nach Puzzleteile hingeworfen, bis nahezu alle Geschehnisse logisch erklärbar werden. Ein paar Details bleiben jedoch rätselhaft, als wollten zur Versöhnung noch ein wenig Magie, Spannung und Nachdenkliches über das Ende hinaus behalten werden. Somit werden die beschriebenen Geschehnisse zu 95 Prozent logisch erklärbar. Doch die fünf ungeklärten Prozent bringen den Liebhabern von über die Realität hinausgehenden Romanen weniger als null Prozent. Vielmehr wird eher die Frage verstärkt: Wieso wurden überhaupt Erwartungshaltungen aufgebaut, wenn sie nur inkonsequent befriedigt werden? Zwar ist es eine schöne Sache, Leser herauszufordern und auf eine falsche Fährte zu locken, doch leider widerspricht sich der neue Weg und wird dadurch weniger spannend als die ursprünglichen Erwartungen.

Umhüllung durch den Erzähler

Auch der Ich-Erzähler schafft es nicht, sich und den Lesern gerecht zu werden. Er ist der Therapeut des Zwillings Remo und von ihm fasziniert, vor allem nachdem er nicht verhindern konnte, dass sein Patient Suizid begeht. Daraufhin ist der Therapeut so von sich enttäuscht, dass er seinen Beruf aufgibt, den Fall der Zwillinge aufklären und ein Buch über sie verfassen möchte. Nach zwei Jahren des Schreibens fällt ihm auf, dass sich sein Werk wie eine Krankenakte liest, in der das Subjekt verloren ging. Er stellt fest: „Um ihr Leben erzählen zu können, musste ich mich jedoch ganz auf ihre Welt einlassen, musste versuchen, ihre Obsessionen und Ängste zu begreifen und den Kampf der beiden um eine je eigene Identität nachzuvollziehen.“ Auch diese Erwartungshaltung wird gebrochen – diesmal ohne Grund. Wie der Therapeut feststellt, schafft er es nicht, sich in Remo hineinzuversetzen. Folglich bleiben die Beschreibungen, abgesehen vom ersten Kapitel, weit entfernt von dem Leben der Zwillinge. Das Buch folgt in seiner Struktur eher den Erkenntnisprozessen des Ich-Erzählers. So sind auch die Therapiesitzungen aus seiner Sicht beschrieben. Er verkommt zu der üblich leeren Hülle des erzählenden Ermittlers eines Kriminalromans – das kann einem gefallen, doch es bleibt fraglich, wieso zwischendurch andere Erwartungen aufgemacht wurden.

Nichtsdestotrotz bleibt die Geschichte interessant. Das Spiel mit der Wahrnehmung scheint ansatzweise gelungen. Freunde von Kriminalromanen werden sich unterhalten fühlen. Doch Leute abseits der Genreerfahrung könnten enttäuscht werden: Zwar wird ersichtlich, was mit dem Brechen der Erwartungshaltungen auszudrücken angestrebt wurde, jedoch bleiben die meisten Erwartungen interessanter als die eigentliche Geschichte.

Vicente Alfonso: Die Tränen von San Lorenzo
Unionsverlag, 224 Seiten
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-29300-5150

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