Ein nur scheinbar obszönes Würstchen

"ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM" am Schauspiel Dortmund Foto: Birgit Hupfeld

„ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“ am Schauspiel Dortmund Foto: Birgit Hupfeld

Sozial schwach wird einmal nicht als politische Worthülse, sondern wörtlich genommen: Die Inszenierung ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM, verfasst von Werner Schwab und inszeniert von Johannes Lepper, welche am 17. Dezember am Theater Dortmund Premiere feierte, ist eine bitterböse Vision mit Realitätsanspruch, die einige Fragezeichen im Geist und einen Klumpen im Magen hinterlässt. Eine etwas andere dramatische Erfahrung, mit der das Schauspiel Dortmund mal wieder überrascht.

von SILVANA MAMMONE

Eine moderne Wirtshausgesellschaft, die der Glaube an die Wurst einigt. Dabei hat jeder an seiner ganz speziellen sauren Gurke zu knabbern. Da ist die hart gesottene, doch ebenso desillusionierte Wirtin (Amelie Barth) sowie der Lehrer Jürgen (Uwe Rohbeck), der zutiefst an die menschliche Vernunft glaubt und sich dabei stets in seinen eigenen Reden verirrt. Mit Luftballon-Möpsen schlendert die exhibitionistische Fotzi (Christian Freund) zwischen den Tischen umher, wobei ihr Leben nicht viel mehr bietet als den täglichen fünfminütigen Weg zum Wirtshaus. Im doppelten Sinne schlagfertig ist das Paar Karli (Frank Genser) und Herta (Friederike Tiefenbacher), welche in einer traurigen Dynamik aus bissigen Kommentaren und Gewalt lebt. Und da ist zu guter Letzt Hasi (Marlena Keil), die sittsame und zutiefst gemeine Frau des unter Pädophilie-Verdacht stehenden Schweindi (Andreas Beck), der kurz davor ist, eine Brotsekte zu gründen, da ein vollkommeneres Nahrungsmittel auf Gottes Erden nirgends zu finden ist. Obwohl sich die kleine Gesellschaft ganz vortrefflich vor einer Meerestapete (Bühne: Johannes Lepper) zur Schau stellt, bleibt die Frage zusehends bestehen, wessen verzerrten Blick wir verfolgen. Wessen Gehirn ist Schöpfer dieser grotesken Vision einer Gesellschaft? (Den Autor lassen wir dabei einmal außen vor, denn was er uns sagen will, bestimmt wenn überhaupt der Regisseur.)

Doppelte Blendung

Religiöse Symbole und Anspielungen sind ein großer Teil des Stücks, und während sich die Figuren in Heilige verwandeln, predigen sie mit meist lautem Getöse und dem vortrefflichen Duktus eines Rhetorikers ihre persönlichen Glaubensbekenntnisse und subtilen Fürbitten. Es beginnt Jürgen, der scharfsinnig die Menschheit bestehend aus lauter Menschen beschreibt und eine kleine große Andacht über die Vernunft zum Besten gibt. Wir können nur zustimmen, wenn er Dinge wie „Schlagen ist nicht solidarisch“ verlauten lässt. Man ist amüsiert, wenngleich geblendet von all den Wortklaubereien und mehr oder minder pseudophilosophischen Ansprachen, die den Rest des Abends selten verklingen werden. Doch auch die kleine Gesellschaft ist geblendet. Penetrant wird sie von einem hübschen, vornehmen Paar (Raafat Daboul und Nina Karimy) am hinteren Bühnenrand angestrahlt. Es ist schön, doch vor allem fremd in vielen Facetten: „weltfremde Menschen“ mit fremder Haut in „feinen Tüchern“; „sexuelle Menschen ohne sexuelles Verantwortungsgefühl“, überhaupt gar „kein Verantwortungsgefühl, wie ein Wald oder das Meer“, vor dem die beiden sitzen. Nicht nur Schweindi sieht seine Bitterkeiten und lebenahen Unzulänglichkeiten auf der Oberfläche dieses Paars reflektiert. Auch die Wirtin fühlt sich degradiert: „Alle besseren Menschen sind zufrieden nur mit sich.“ So klein der Raum, so komplex sind die Themen des Abends, die Situation spitzt sich schnell zu und nimmt geradezu biblische Ausmaße an.

"ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM" am Schauspiel Dortmund Foto: Birgit Hupfeld

„ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“ am Schauspiel Dortmund Foto: Birgit Hupfeld

Besser man hat gar keinen Geruch oder man stinkt

Denn was macht man in einem Raum, in dem die einzige Weite und Fluchtmöglichkeit lediglich auf der Tapete abgebildet ist und in dem nichts und niemand außer das „Fremde“ Ein- und Auszug erhält? Auf dieser Bühne ist die größte Distanz eine unsichtbare zwischen den Figuren. Die Dialoge zeugen von einer individuellen Gefangenschaft in der eigenen kleinen Einöde des Lebens. Das Einzige, was dort wächst, sind all die nihilistischen, idealistischen und polemischen Glaubenssätze, die die Figuren unaufhörlich verlauten lassen. Dabei ist es die überzeugende schauspielerische Leistung, die es schafft, eine eigentümliche und vor allem gewaltbereite Gruppendynamik zu vermitteln, welche jedoch trotz aller Vertrautheit keine Wärme oder tiefergehende Verbindung zwischen den Charakteren vermuten lässt. Die Spieler schaffen so eine unangenehme Atmosphäre von Feindlichkeit und konstanter Verletzung untereinander. „Besser man hat gar keinen Geruch oder man stinkt, sonst kommen einem die Menschen zu nah, um etwas herauszufinden“, wie es Hasi auf den Punkt bringt. Die Figuren halten sich jedoch keineswegs zurück, die Makel des Anderen, bis hin zu Schweindis Erektionsproblemen, als Waffe zur Verletzung zu benutzen. Einigkeit finden sie lediglich in der Verachtung des Fremden. Dabei muss man nicht selten überrascht oder beschämt auflachen, wenn die Figuren ihre Feindseligkeit in Worte fassen: „Die haben einen Fehler an der Drüse, daher haben sie erblich schon kein Verantwortungsgefühl angelegt.“ Sich gegenseitig in ihrem Hass anstachelnd, kommt es zum Mord oder besser gesagt zur Metzelei als Schreckensvision. Die reaktionäre Entladung von Bitterkeit und Frustration durch die Projektion auf das Andere und Fremde wird hierbei grotesk dargestellt, indem das fremde Paar bis auf die Knochen gefressen wird. Während Hasi es als heiligen Akt ansieht, hat Jürgen die zu späte Erkenntnis, dass „nur eine Fremdheit eine Schönheit“ ist. Am Ende erfahren die Figuren Ablehnung durch die erneut auftretenden unbekannten Besucher, die sich mit solch einem traurigen Haufen nicht abgegeben wollen. Eben zwar noch beleidigt und gefressen, lässt Karli diese Zurückweisung ungern auf sich sitzen: „Wir sind keine traurige Gesellschaft!“ Über das ihnen servierte und verkümmerte Käsebrot mit Ketchup kichernd, lässt sich die Dame wenig von ihrer Ansicht abbringen: „Das sind einfache Leute, Chéri.“ Doch wie Lehrer Jürgen schon belehrte, ist „das Einfache genauso wichtig wie das Uneinfache“. Das Stück folgt dieser Devise und zwingt den Zuschauer vor allem zu einem: das augenscheinlich Einfache zu beachten.

Das Getötete verfliegt wie Staub

So viel Gewalt, Verletzung und verbaler Schlagabtausch passiert, so wenig Handlung gibt es im klassischen Sinne. Somit ist man weniger Zeuge eines Teufelskreises als vielmehr Betrachter eines unveränderlichen Abendmahl-Gemäldes, das nach Übermalung schreit und dessen Porträtierte sich nach eigener kreativer Entfaltung sehnen. Doch die Figuren kleben an den Tischen, verdammt, auf ewig das unechte Meer zu betrachten. Einmal verlieren sie sich in einer Vision des Paradieses: eine gemeinsame Wüstenvision, denn „das Beste an einem Menschen, ist eine Landschaft ohne Ende“. Doch die eigens auferlegte, bewusst oder unbewusst ausgelebte Sitte beschneidet die eigene Imagination und so auch den Glauben an Entfaltung. So wird das Paradies „zum Picknickplatz mit lauter einheimischen Menschen“. Text und Inhalt harmonieren hier sehr schön, da die einzige Hoffnung grammatisch ist, doch auch diese verfliegt wie Staub. Denn der Konjunktiv sucht die Wortklauberei und findet lediglich Nihilismus – vorbei die utopischen Visionen.

Wenn es keine Geschichte gibt außer der grotesken Vision von Gewalt gegen das Andere, ist man als Zuschauer auf den eigenen Blick zurückgeworfen, der wiederum Bände erzählt. Denn vieles, was man über die Figuren faktisch zu wissen meint, ist selbst erdacht. Was gibt es also, außer Perspektive und die Frage nach derselben? Dabei amüsiert und quält einen der Blick auf die Figuren. Trotz Fragezeichen und mulmigem Gefühl oder gerade deshalb ist das Stück sehenswert. In seiner figürlichen und inszenatorischen Vielfalt ist es amüsant und herausfordernd zugleich.

 

Information zur Inszenierung
Nächste Vorstellungen:
Sonntag, der 7. Januar 2018
Mittwoch, der 10. Januar 2018
Sonntag, der 21. Januar 2018
Freitag, der 26. Januar 2018

 

Hinterlasse einen Kommentar