„Im Zweifel für den Angeklagten.“

Ein geistig behinderter Vater wird des Mordes an einem kleinen Mädchen angeklagt. Er wird von seiner Tochter getrennt und zum Tode verurteilt. Kommt es zum Urteil oder geschieht am Ende ein Wunder? Mehmet Ada Öztekins Meisterwerk 7. Koğuştaki Mucize (übersetzt: Wunder in der Gefängniszelle Nummer 7) setzt sich einerseits mit gesellschaftlichen Problemen wie der Todesstrafe oder der Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung auseinander, andererseits löst der Film ein Wechselspiel aus Wut, Freude, Trauer und Frustration beim Zuschauer aus.

von VANESSA MUSZARSKY

„Die Todesstrafe wurde in der Türkei offiziell abgeschafft. Die letzte Todesstrafe wurde im Jahr 1984 vollstreckt.“ Wir schreiben das Jahr 2004. Eine junge Braut macht sich für ihren großen Tag fertig, als sie diese Fernsehnachricht hört. Sie blickt in die Ferne und holt nach einiger Zeit eine kleine Metalldose aus einer Schublade heraus. Sie hebt den Blick und schaut direkt in die Kamera. Sie möchte eine Geschichte erzählen.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1983 in einem kleinen Dorfe an der Ägäis.Der Schafhirte Mehmet Koyuncu (Aras Bulut Yinemli) wohnt mit seiner sechsjährigen Tochter Ova (Nisa Sofiya Aksongur) und seiner Mutter (Celile Toyon) zusammen in einem Häuschen. Sie führen ein friedliches Leben: Ova geht zur Schule, Mehmet hütet seine Schafe, seine Mutter kümmert sich um den Haushalt. Was sich wie der Anfang eines Kindermärchens anhört, entpuppt sich als griechische Tragödie. Die kleine Ova bemerkt, dass ihr Vater nicht wie andere Väter ist. Er verhält sich oft selbst wie ein Kind, er albert herum und scheint sein Umfeld nicht immer wahrzunehmen. „Dein Vater ist genauso alt wie du“, erklärt Mehmets Mutter ihrer Enkelin. Die Mehrheit des Dorfes glaubt allerdings, dass Mehmet ein Verrückter ist. Das macht ihm nichts aus, er hat schließlich seine Ova, die er abgöttisch liebt. Er möchte für immer bei ihr bleiben und für sie da sein – immerhin hat Ova ihre Mutter Ayşe schon verloren. Jetzt ist sie ein Engel und lebt im Himmel, wie Mehmet seiner Tochter erzählt: „Ova, Ova schau da sind Vögel. Grüßt mir meine Ayşe, ihr Vögel.“

Lasset die Kinder zu mir kommen

Die Tragödie beginnt mit einem äußert hübschem Heidi-Rucksack. Es findet eine Parade im Dorf statt. Mehmet möchte seiner Tochter eine Freude machen und ihr den Rucksack kaufen. Leider hat aber schon der Oberleutnant Aydin seiner Tochter Seda den Rucksack gekauft. Als Mehmet später mit seiner Schafsherde spazieren geht, begegnet er einer Gruppe Kinder. Darunter ist auch Seda mit ihrem Heidi-Rucksack. Die Kinder albern mit Mehmet herum, bis sie von den Erwachsenen gerufen werden. Seda zieht es jedoch vor mit Mehmet weiterzuspielen. Die beiden toben herum. Sie nähern sich einer Schlucht. Mehmet ruft nach ihr, sie soll zu ihm kommen. Doch sie kommt nicht zu ihm… Als sich Mehmet später, den leblosen Körper von Seda in den Armen haltend, einem naheliegenden Ufer nähert, fragt er sich, ob das kleine Mädchen schläft oder ob aus ihr ein Engel geworden ist.

 L’éspoir est un plat bien trop vite consommé

Kurze Zeit später wird Mehmet verhaftet und in eine geschlossene Strafanstalt gebracht. Seine Mutter, seine Tochter Ova und ihre Klassenlehrerin sind von seiner Unschuld überzeugt. Die Frauen sind sich sicher, dass Mehmet ein Herz aus Gold hat und niemals in der Lage wäre, eine solche Tat zu begehen. Aber Oberstleutnant Aydin will, dass Mehmet gehängt wird – und dafür wird er sorgen. Mehmets einziger Zeuge ist ein „einäugiger Riese“, ein altes, aus Stein gemauertes Gebäude, in dem ein desertierter Soldat die Tragödie an der Schlucht beobachtet hat. Allerdings ist dieser Zeuge unauffindbar. Währenddessen machen Mehmets Gefängnisinsassen ihm sein Leben zur Hölle. Mehmet sehnt sich nach seiner Tochter, er schreibt ihr Briefe, spielt mit den Tauben im Gefängnishof und versucht aus seiner Situation das Beste zu machen. Bald bemerken die Gefängnisinsassen, dass Mehmet ein herzensguter und fröhlicher Mensch ist. Sie freunden sich mit ihm an und sind bald selbst von seiner Unschuld überzeugt. Doch was können sie tun? Das Exekutionsdatum steht fest und es wird bereits ein Galgen gebaut. Mehmet läuft die Zeit davon. „Die Hoffnung ist ein Gericht, das zu schnell verspeist wird“ sang schon die Sängerin Camille Dalmais in ihrem Lied Le festin.

Wir müssen reden

Wie bereits erwähnt setzt sich der Film mit einem ernsten Thema auseinander: Die Todesstrafe und ihre (moralische) Rechtmäßigkeit. Auch wenn der Film in den 80er Jahren spielt und die Todesstrafe in vielen Ländern seitdem abgeschafft wurde, hinterlässt der Gedanke, dass in einigen Ländern die Todesstrafe noch vollzogen wird, einen bitteren Beigeschmack. Mehmet ist ein geistig behinderter Mensch, aber die Menschen im Dorf verstehen nicht, dass er in seinem Denken und Handeln eingeschränkt ist. Er ist nicht schuldfähig. Diese Situation wird von den Polizisten und dem Oberleutnant ausgenutzt, um ihn hinter Gitter zu bringen.

Ein Meisterwerk

Eine Eigenschaft, die 7. Koğuştaki Mucize besonders macht, ist die Intensivität der Szenen. Manche Szenen sind rührend: Mehmet befindet sich im Büro des Leiters der geschlossenen Strafanstalt, vor ihm steht seine Tochter. Er hat gerade erfahren, dass er bald gehängt wird. Tränen laufen über seine Wangen, verzweifelt fleht er seine Tochter an: „Ich möchte kein Engel sein. Baba möchte kein Engel werden!“ Ova wirft sich selbst tränenüberströmt in die Arme ihres Vaters: „Baba, Baba, Baba!!!“ Manche Szenen sind brutal: Mehmet wird während seines ersten Verhörs von zwei Polizisten verprügelt, drangsaliert und misshandelt. Sie versuchen, ein Geständnis aus ihm herauszuholen. Doch Mehmet beteuert seine Unschuld und das Martyrium nimmt seinen Lauf. Es gibt Momente, die einem zum Lächeln bringen: Mehmet befindet sich im Gefängnishof und schaut zum Himmel herauf. Er beobachtet die Wolken und erinnert sich an einen Nachmittag, an dem er und Ova Wolken gedeutet haben. In einer Rückblende liegen die beiden in ihrem Garten unter einem Baum und schauen sich begeistert die vielfältigen Formen der Wolken an. „Schau mal Ova! Die da sieht aus wie ein einäugiger Riese!“, ruft Mehmet und deutet auf den Himmel. „Ja! Baba du hast Recht. Sie sieht aus wie ein einäugiger Riese“, erwidert Ova und strahlt ihren Vater an. Ihre Augen scheinen vor Freude zu glitzern. Mehmet blickt liebevoll auf seine Tochter. Er könnte nicht glücklicher sein. Die Anzahl an besonders eindringlichen und emotionalen Szenen könnten einigen Zuschauern schwerfallen. Ein Film, den man sich vielleicht nur einmal im Leben oder nur selten anschaut, weil er einen persönlich so stark bedrückt, wie es beispielsweise bei Filmen wie Schindlers Liste oder Sophies Entscheidung der Fall sein könnte.

Die Musik, die Schauspieler und die Geschichte machen aus 7Koğuştaki Mucize ein Meisterwerk. Der Soundtrack von Hasan und Işil Özsüt vermittelt einfühlsam Melancholie, Freunde und Trauer. Besonders die Stücke Gerçekler (Wahrheit) und Mucize (Wunder) sind rührend. Klavier, Geige, diverse Streichinstrumente, traditionell türkische Instrumente. Die Musik passt zu jeder Szene. Darüber hinaus ist die Chemie zwischen Vater und Tochter einzigartig. Mehmet (Aras Bulut Yinemli) und Ova (Nisa Sofiya Aksongur) sind ein so wunderbares Gespann als führten die beiden auch im wahren Leben eine glückliche Vater-Tochter-Beziehung. Auch die anderen Schauspieler bieten Glanzleistungen dar. 7. Koğuştaki Mucize – bei dem es sich übrigens um eine Neuverfilmung des südkoreanischen Films Miracle in Cell No. 7 von Lee Hwan-Kyung aus dem Jahr 2013 handelt – kann man momentan ausschließlich auf Türkisch mit Untertiteln schauen. Doch gerade das trägt zum Charme des Filmes bei.

7. Koğuştaki Mucize (2019)

Ursprüngliches Erscheinungsdatum: 11. Oktober 2019

seit März 2020 auf Netflix abrufbar

Regie: Mehmet Ada Öztekin

Drehbuch: Özge Efendioglu, Kubilay Kat

Darsteller: Aras Bulut Yinemli, Nisa Sofiya Aksongur, Deniz Baysal

Laufzeit: 132 Minuten

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