Lebefrau sucht Lebensglück

Sahar Mandûr: Ein Mädchen namens Wien; Cover: Edition Faust

Im von Krisen und Kriegen gebeutelten Libanon, genauer in dessen Hauptstadt Beirut, begibt sich in der Erzählung Ein Mädchen namens Wien die gleichnamige Protagonistin auf die Reise ihres Lebens und auf die Suche nach ihrem Platz in der Welt. Doch ihr promisker Lebensstil und ihr In-den-Tag-Hineinleben beschert Wien einen isolierten Platz in der Gesellschaft – nur ihr Bruder hält zu ihr. Ein unterhaltsamer Parforceritt durch die libanesische Gesellschaft, die sich irgendwo zwischen Moderne und Tradition bewegt.

von THOMAS STÖCK

Der erste Satz der Erzählung Ein Mädchen namens Wien (mit 96 Seiten ist das Wort „Roman“ wohl noch nicht ganz angebracht) hat es bereits in sich: „‚Verflucht dem Mann, dem Töchter geboren werden!‘“ In der arabischen Welt haben selbst in vergleichsweise modernen Gesellschaften wie dem Libanon Frauen einen schweren Stand. Zu den beruhigenden Klängen des Bürgerkriegs wird Wien in eine Welt hineingeboren, in der sie von Beginn an keinen Platz hat. Immerhin auf ihren Namen ist sie stolz. Gleich mit zwei Songs ist er verwoben – und einen Namen, den man singen kann, muss man ja toll finden! Bemerkt unsere Protagonistin im Säuglingsalter. Mit erzählerischem Highspeed durchläuft Wien Kindheit und Pubertät. Und mit dem Erwachsenwerden, da fangen die Probleme erst an.

Promisk und unzufrieden, aber frei

Ihre Eltern gewähren ihr einigen Freiraum, doch erhoffen sie sich vom Töchterchen, dass sie eine Karriere anstrebt. Als diese an der Universität eine geisteswissenschaftliche Karriere einschlägt, geht ein Raunen, gar ein Stöhnen durch die Familie. Was die Eltern nur verbrochen hätten, um so etwas zu verdienen? Naja, immerhin könnte sie ja noch Jura oder Psychologie studieren… Als Wien aber auch diese Laufbahnen in den Wind schlägt und ein Philosophiestudium aufnimmt, bleibt den Eltern nichts als Resignation. Doch selbst dieses Studium bekommt die sich nie auf eine Sache konzentrierende Wien nicht hin. Immerhin einer ist aber stets auf ihrer Seite: ihr Bruder Achmad. Und der verschafft ihr einen Job beim Fernsehen.

Doch auf Dauer wird Wien auch hier nicht glücklich. Erst geht sie eine arrangierte Ehe mit einem sterilen Mann ein, der unbedingt ein Töchterchen haben will. Als der Ehemann sich selbst umbringt, weil ihn die Erkenntnis seiner Sterilität seines Lebenswillens beraubt, da macht Wien, was sie am besten kann. Wie schon vor und während der Ehe schläft sie mit unzähligen Männern. In einige verliebt sie sich, doch ihr unsteter Lebensweg führt sie auf weitere Abwege. Selbst die Wiederaufnahme ihres Studiums, die Einblicke in das Hausfrauenleben in ihrer näheren Umgebung und sogar die vermeintliche religiöse Erweckung bringen ihr nicht das Glück und den gesellschaftlichen Anschluss, den sie begehrt. Und so verwirft sie auch Kochschürze und Kopftuch.

Ein Eisberg an Problemen

Vor kurzem habe ich ein Porträt über Ernest Hemingway und dessen Eisberg-Theorie verfasst. Auch Sahar Mandûrs kurzweilige Geschichte lässt sich mit dem Eisberg in Verbindung setzen. Denn was vordergründig erzählt wird, weist auf tieferliegende Probleme der libanesischen Gesellschaft hin. Ein Mädchen namens Wien, im Untertitel als Ein Frauenleben beschrieben, fasst viele Probleme von Frauen im heutigen Libanon zusammen. Natürlich ist es schön, dass im Libanon libertärer mit Frauen umgegangen wird als etwa in Saudi-Arabien. Im Libanon kann Wien sogar als TV-Moderatorin ohne Kopftuch vor die Kamera. Aber auch wenn Frauen Karriere machen können, sind sie den Männern in der Gesellschaft nicht gleichgestellt. Ihre arrangierte Ehe birgt zwar nicht die weitreichenden Folgen wie in Nassira Belloulas Roman Marias Zitronenbaum, was wohl der Tatsache geschuldet ist, dass sie schon deutlich älter und reifer ist. Als Erwachsene mit einiger Lebenserfahrung gelingt es Wien viel besser, ihre Situation pragmatisch zu erfassen und ihren promisken Lebensstil fortzuführen, als es der algerischen Maria gelingt, ihre Liebe weiterzuverfolgen. Doch trotz vieler Freiheiten: Ein Makel bleibt.

Vielleicht ist es nicht unbedingt ein Makel, sondern vielmehr das andauernde Mäkeln ihrer Umgebung. Ihre Eltern beschweren sich, die Familie ihres verstorbenen Ehemanns kritisiert sie, ihre religiösen Schwestern tragen ihr sogar auf, ihren geliebten Namen zu ändern. Und wenn Wien nicht weiterweiß, dann rennt sie zu ihrem Bruder Achmad. Sieht so Freiheit aus? Vorbehaltlose Unterstützung schenkt ihr nur ihr Bruder – und das auch nur, wenn sie das tut, was er für richtig hält. Wien ist allerorten sozialem Druck ausgesetzt. Und was passiert, wenn dieser sich ein Frauenleben lang aufstaut, erfahren Sie am Ende von Ein Mädchen namens Wien. Eisberg voraus.

Sahar Mandûr: Ein Mädchen namens Wien. Ein Frauenleben. Aus dem Arabischen übersetzt von Hartmut Fähndrich
Edition Faust, 96 Seiten
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-949774-05-8

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