Verrückt sind ja immer die anderen

Angela Lehner: Vater unser Cover: dtv Verlag

Angela Lehners Roman Vater unser erzählt die Geschichte einer narzisstischen Protagonistin, die sich in eine Psychiatrie einweisen lässt, um ihren Bruder zu retten. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Lüge immer mehr und lassen den Leser mit vielen offenen Fragen zurück. Das Buch wurde mit dem Debütpreis des Österreichischen Buchpreises 2019 ausgezeichnet.

von PAULA BURMEIER

Eva Gruber wird unter Polizeiaufsicht in eine psychiatrische Klinik in Wien eingewiesen, weil sie behauptet, eine ganze Kindergartengruppe erschossen zu haben. In Wirklichkeit will sie mit ihrem depressiven und essgestörten jüngeren Bruder Bernhard wiedervereint werden, um ihn zu retten. Die einzige Lösung dafür: Sie müssen den Vater töten.

„Unser Geschwür ist der Vater. Der Vater wuchert uns unter der Haut, er dringt uns aus den Poren. Der Vater kriecht uns den Rachen herauf, wenn wir uns verschlucken. Nein, das innere Kind heilen zu wollen ist Blödsinn.“

Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive von Eva erzählt, die in ihrem bisherigen Leben schon sehr viel Leid erfahren hat: Vernachlässigung durch die Eltern, möglicher Missbrauch, frühe Verantwortung für den Bruder. Auch in der Gegenwart hat sie noch ein schwieriges Familienverhältnis. Eva möchte die Beziehung zu ihrem Bruder aufrechterhalten und sich um ihn kümmern, doch Bernhard verhält sich ihr gegenüber sehr abweisend.

Die unzuverlässige Narzisstin als Erzählerin

Der Leser begleitet Evas Gedanken, Gespräche und Erlebnisse im Klinikalltag. Im Vordergrund stehen die Therapiestunden mit dem Chefpsychiater Doktor Korb, in denen Eva von ihrer Kindheit und ihren familiären Problemen erzählt.

„[W]ie Sie sicher selbst wissen, sind Ihre Aussagen widersprüchlich. […] Sie geben an, Ihren Bruder >abgöttisch zu lieben<, dennoch lassen sich auch hier aggressive Tendenzen nicht von der Hand weisen. Sie träumen laut eigener Aussage von Weltfrieden, […] ich habe aber den Eindruck, dass Sie latent rassistisch sind.“

Eva ist sehr schlagfertig, frech und rücksichtslos. Sie sagt, was sie denkt und fühlt, ohne auf die Konsequenzen oder Gefühle anderer Leute zu achten. Ihre Erzählungen ergeben an vielen Stellen keinen Sinn, sind widersprüchlich und ihre früheren Aussagen werden oft widerlegt: Sie lügt und manipuliert, um ihr Ziel zu erreichen. Doch im Laufe des Buches fragt sich der Leser immer mehr, was ihr eigentliches Ziel ist, was wirklich passiert ist und was Eva sich nur ausgedacht hat. Sie ist eine unzuverlässige Erzählerin, was dem Leser den Zugang zum Buch erschwert.

Die eingeschobenen Rückblicke in die Vergangenheit scheinen teilweise mit der Gegenwart zu verschmelzen. Die Übergänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind oftmals nicht eindeutig: Während die Rückblenden anfangs noch in eigenen Kapiteln erfolgen, wechseln Vergangenheit und Gegenwart im Verlauf der Handlung bereits zwischen den Absätzen und schließlich mitten im Satz.

„Du sollst nicht lügen“

Das Thema Religion spielt im Roman immer wieder eine Rolle. So erfährt der Leser, dass Eva streng katholisch erzogen wurde, in ihrer Kindheit aber immer wieder von ihren Eltern enttäuscht wurde: Sie musste das erste Gebot „Du sollst nicht lügen“ auswendig lernen und verinnerlichen, nur um später zu erfahren, dass es dieses Gebot gar nicht gibt und sie belogen wurde. Auch das „Vaterunser“ musste sie unter den strengen Augen ihres Vaters auswendig lernen, der für Evas und Bernhards Kindheitstraumata verantwortlich ist: Er ist Alkoholiker, Dauerschläfer, meist abwesend oder misshandelt seine Kinder. So verbindet Eva die Religion mit den traumatischen Erlebnissen und Enttäuschungen ihrer Kindheit.

Schonungslos und schlagfertig

Angela Lehner schreibt sehr direkt und unverblümt. Trotz der schwierigen Themen gibt es viele humorvolle Passagen, vor allem in den Schlagabtauschen zwischen Eva und Korb: „‚Ach, Frau Gruber‘, sagt Korb und seufzt, ‚so klug sind Sie. Was hätte aus Ihnen bloß alles werden können, wenn Sie nicht so verrückt wären.‘ Ich nicke […]‚ wenn ich einfach nur ein bisschen blöder wär, hätt ich zum Beispiel Psychiater werden können.‘“ Die Gespräche und die teilweise skurrilen Gedanken von Eva sind oft ironisch und humorvoll. Der österreichische Dialekt kommt in vielen Passagen immer wieder zum Vorschein. Durch die kurzen Kapitel fliegt man nur so durch die Seiten und doch zieht sich die Handlung gegen Ende etwas in die Länge, um dann zu abrupt zu enden.

Die große Aufklärung am Ende?

Das ganze Buch über wartet der Leser auf die große Aufklärung am Ende. Die Erklärung für Evas (und Bernhards) Verhalten, die Klarheit darüber, was Lüge und was Realität ist. Man wartet vergeblich. Eva ist und bleibt eine unzuverlässige Erzählerin, was ihrem Geisteszustand geschuldet ist. Der Leser erfährt eigentlich nichts. Man kann nur vermuten, dass Eva (und auch Bernhard) eine tragische Vergangenheit haben, die ihr ganzes Leben beeinflusst. So bleibt man enttäuscht, verwirrt und stattdessen mit vielen offenen Fragen zurück.

 Angela Lehner: Vater unser

dtv Verlag, 284 Seiten

Preis: 11,90 Euro

ISBN: 978-3-423-147927

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