Drei, zwei, eins…meins

"Shoplifters"

„Shoplifters“

Seine Familie soll man sich bekanntlich nicht aussuchen können. In seinem neuen Film Shoplifters hinterfragt der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda diese Binsenweisheit und stellt ohne große Rührseligkeit oder übertriebene Emotionalität einen alternativen Familienentwurf dar. 

von CAROLIN KAISER

Die Familie: Hort der Liebe und Geborgenheit, peinliche Verwandte, die man jedes Jahr besuchen muss, der heiligste Ort des Wertekonservatismus und Grund zahlreicher Erbstreitigkeiten. Auch wenn die Familie ein zentraler Aspekt des menschlichen Zusammenlebens ist, scheint man sich nicht ganz sicher zu sein, was genau einen Haufen zusammenlebender Menschen zu einer Familie macht. Blutsverwandtschaft? Zuneigungs- und Zusammengehörigkeitsgefühle? Steuerbehördliche Formalitäten? Der japanische Film Shoplifters (in Deutschland mit dem obligatorischen erklärenden Untertitel Familienbande veröffentlicht) argumentiert in dieser definitorischen Unsicherheit gegen die Blutsverwandtschaft und hat mit seiner Darstellung einer familiären Wahlverwandtschaft zumindest die Jury beim Filmfestival von Cannes 2018 überzeugt. Diese zeichnete den Film von Hirokazu Kore-eda nämlich mit der Goldenen Palme aus.

Zweifellos asozial und zweifellos liebenswürdig

Im Zentrum des Films steht die fünfköpfige Familie Shibata, die am Rande von Tokio in einer kleinen, alten, von neueren Mehrfamilienhäusern eingezwängten Hütte lebt. Vater Osamu (Lily Franky) arbeitet auf dem Bau, Mutter Nobuyo (Sakura Ando) in einer Wäscherei, Großmutter Hatsue (Kirin Kiki) unterstützt die Familie mit ihrer Witwenrente und Tochter Aki (Mayu Matsuoka) verdient nebenbei in einem Stripclub. Trotzdem ist das Geld der Familie knapp. Osamu und der etwa zehnjährige Sohn Shota (Kairi Jo) gehen deshalb regelmäßig in Supermärkten Lebensmittel und andere Gebrauchsgegenstände klauen. Währenddessen entwendet Nobuyo auf der Arbeit wertvolle Gegenstände aus der Kleidung der Kunden. Auf der Rückkehr einer ihrer Diebestouren sehen Osamu und Shota ein kleines, verwahrlostes Mädchen trotz der winterlichen Kälte auf einem Balkon in ihrer Nachbarschaft hocken. Die beiden entscheiden sich, das Mädchen für das Abendessen zu sich nach Hause zu nehmen. Bei Osamu und Nobuyo festigt sich allerdings schnell der Verdacht, dass Yuri (so der Name des Mädchens) von ihren Eltern vernachlässigt und geschlagen wird. Obwohl in der engen, zugestellten und schmuddeligen Hütte der Shibatas schon für fünf Personen kaum Platz ist, entscheiden sie sich, das Mädchen vorerst bei sich zu behalten. Die kleine Yuri wird liebevoll in das Leben der kleinkriminellen, manchmal etwas ruppigen Familie integriert und auch in die Ladendiebstähle miteinbezogen. Die Familie sitzt jedoch auf heißen Kohlen: Nach ein paar Wochen des friedlichen Zusammenlebens beginnt die Polizei, wegen des dringenden Tatverdachts auf Entführung öffentlich nach Yuri zu suchen.

Wer ist hier jetzt eigentlich wie mit wem verwandt?

Shoplifters‘ zweifellos größte Stärke ist die Darstellung der Familienbeziehungen. Der Film schafft es, nicht in die Falle des Familienkitsches zu fallen, in die bekanntermaßen US-amerikanische Filme häufig tappen. Hier gibt es kein schickes, blank geputztes Eigenheim, wo sich alle Familienmitglieder ihre Insiderwitze erzählen, sich gegenseitig One-Liner zuwerfen und jeder Streit direkt in einem hochdramatischen, wutentbrannten, ein wenig pubertären Wer-schreit-lauter-Wettbewerb endet. Die Familie in Shoplifters wirkt deutlich realer – nicht jede kleine Ungereimtheit wird direkt in einem theatralischen Streit ausgefochten, und die Stille des Schweigens muss keineswegs zwangsläufig als peinlich oder Zeichen der Entfremdung zwischen Eltern und Kind gelten. Vor allen Dingen schafft es Shoplifters mit seiner Familienporträtierung, grundlegenden Fragen zum Konzept Familie und dem familiären Zusammenleben nachzugehen. Im Verlauf des Films wird etwa deutlich, dass die am Anfang scheinbar noch festgefügte Familienkonstellation von Mutter, Vater, Tochter, Sohn und Großmutter doch nicht so festgefügt ist. Der Fokus liegt indessen komplett auf der Familie Shibata, denn viele soziale Kontakte außerhalb der Familie haben die einzelnen Familienmitglieder nicht. Erst im letzten Drittel des Films dringt die Außenwelt wirklich in den Mikrokosmos der Familie ein und stellt das alternative Familienmodell der Shibatas infrage – in moralischer wie auch in juristischer Hinsicht. Die Sympathie des Zuschauers wird dabei zwar eindeutig auf die Seite der Shibatas gelenkt, die trotz ihrer wirtschaftlich und sozial prekären Lage liebevoll miteinander umgehen, jedoch schafft es der Film, sich von Rührseligkeiten und einem idealisierten Familienidyll des außergesetzlichen Lebens freizumachen. Dass es der Film dabei eher langsam und leise angehen lässt, ist für einen Gewinnerfilm aus Cannes, wie Filmkenner wissen, nicht allzu verwunderlich. Aber manchmal ist „langsam und leise“ tatsächlich die bessere Erzählweise für einen Film – wie auch die bessere Taktik beim Ladendiebstahl.

Shoplifters – Familienbande (2018). Regie: Hirokazu Kore-eda. Darsteller: Lily Franky, Sakura Ando, Kirin Kiki, Mayu Matsuoka. Laufzeit: 121 Minuten.

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