In der lesBar mit Dorothy Parker und Reichsrat von Buhl

Dorothy Parker: „New Yorker Geschichten“, Zürich/Berlin 2017.

Eine bibliophile Angst, ein Sportschuhproblem, eine Cremesuppe, ein reifer Riesling, eine bitterböse New Yorkerin, eine Orgie in der Buchhandlung, ein mysteriöser Verlust von Zeit und ein fehlgeschlagenes Multitasking. Lernen Sie in der lesBar aus meinen Fehlern!

von NICK PULINA

Servus in die Runde! Das soll es ja geben: Aus heiterem Himmel entfällt ein Termin und Sie haben plötzlich zwei Stunden zur freien Verfügung. Wunderbar! Doch was gibt es für Leseratten wie mich und (wahrscheinlich) Sie Schlimmeres, als dann in dieser Situation ohne Buch dazustehen? 

Bis dato noch nicht von der Abibliophobie, also der Angst vor Buchlosigkeit, geplagt, sollte ich diese Selbstdiagnose wohl nun doch einmal reflektieren. 

Als junger, zeitgemäßer Mensch (meine Freund:innen werden herzlich lachen), bin natürlich auch ich durchdigitalisiert. Smartphone in der Hosentasche, Kopfhörer griffbereit, eine Spielekonsole für das portable Gaming im Gepäck ist das Risiko zur gähnenden Langeweile zugegeben äußerst gering. Doch die fantasievollsten Welten, die splatterhaftesten Thriller und die herzerwärmendsten Geschehnisse finden sich doch noch immer zwischen zwei Buchdeckeln.

Erwarten Sie nun bitte kein nostalgisches „Ich brauche aber Papier in der Hand“-Geschwelge von mir. Ich gehöre absolut nicht zu den Gegner*innen von digitaler Lektüre! Eine Zeitschrift als ePaper, ein Roman als Hörbuch, eine Erzählung auf dem eBook-Reader: bequem, praktisch, gut! Aber auch einen eBook-Reader müssen Sie eingepackt haben…

Versetzen Sie sich nun in folgende Situation: Sie haben sich nach Stunden des Ringens, Zweifelns, Weinens und Stoßbetens endlich dazu durchgerungen, den beschwerlichen Weg ins Fitnessstudio Ihres Vertrauens (oder zumindest Vertrages) auf sich zu nehmen und stellen dort in der Umkleide fest: Sie haben Ihre Sportschuhe vergessen.

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Nicht weiter tragisch, so Sie nicht wie ich aufgrund des niederschlagsreichen Wetters zu den Lederstiefeletten gegriffen haben. Zugegeben: In Shorts und Sneaker-Socken mit knöchelhohen Schuhen auf einem Stepper zu stehen, hätte sicherlich meine Mitsportler:innen amüsiert, jedoch weder Füße noch Schuhe wirklich beglückt. Der einzige Ausweg: der Ausweg.

Vorbei an den Strampelnden, Hopsenden, Prustenden und Pumpenden, an den verwirrten Angestellten und dem mindestens ebenso verwirrten Drehkreuz, zurück in die Welt der Versuchungen. Da kratzt man einmal seine Motivation zusammen und dann sowas…

Einen alternativen Plan zu entwickeln, kostete mich allerdings nicht einmal einen Wimpernschlag: Ich würde mir ein Buch kaufen, Essen gehen und damit die zwei Stunden bis zu meinem nächsten Termin überbrücken. Was auch sonst?

So stand ich also in meinem heiß geliebten Buchlädchen und sah mich einer viel größeren Herausforderung gegenüber, als einfach nur kein Buch dabei zu haben. Wer die Wahl hat… Die Situation, in einer gut sortierten Buchhandlung bar jeglicher Planung theoretisch alles schnappen zu können, löst zwar größte Euphorie aus, stiehlt die Zeit allerdings schneller und effektiver als manch ein grauer Herr.

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40 Minuten später war es endlich soweit: Nach vielfachem Zugreifen, Überfliegen, Zurückstellen, erneut Nehmen, nochmal Überfliegen, Geistesblitzen á la „ich könnte doch auch mal nach XY gucken“ und dem ein oder anderen beratenden Wort der anwesenden Fachkräfte, kaufte ich natürlich doch das Buch, das mir zuallererst in die Augen sprang. 

Bewaffnet mit den Spitzfindigkeiten, Gemeinheiten und Eigenheiten der wunderbaren New Yorker Geschichten der noch wunderbareren Dorothy Parker zog es mich in den Grünen Gaul, mein Herzensgasthaus. Schnell eine Flasche Wasser, ein Gläschen Wein und eine Portion Maiscremesuppe bestellt und der Leseeuphorie stand nichts mehr im Wege!

Einzig: Die sich eben noch so unendlich und frei anfühlenden zwei Stunden waren – ganz ohne graues Zutun – auf mysteriöse Weise auf gute 50 Minuten geschrumpft. Der nächste Termin sitzt im Nacken, aber eine Dorothy Parker lässt man nicht warten!

„Hier habe ich schon einmal ein bisschen Brot für Sie.“ Oh huch, vielen Dank! Fokusverschiebung. Brot Buttern geht vor Seite Blättern. Lecker! Aber nun zurück nach New York!

Schon die ersten Seiten der ersten Geschichte im Buch warten mit einer so ungehörigen, präzisen Lästerei auf, dass mein Herz kaum höher hätte schlagen können.

„So, hier einmal ihr Wein und die Suppe. Darf ich Ihnen das Wasser einschenken?“ Wer, was, wo? Oh ja, natürlich, vielen Dank! Buch zur Seite, Wein verkostet, Suppe probiert. Heiß, aromatisch, anschmiegsam. Kurz: Wohlfühlküche per excellence – ich liebe es!

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Credit: Reichsrat von Buhl.

Der Wein, ein 2013er Forster Riesling Gutswein des wunderbaren Weinguts Reichsrat von Buhl in der Pfalz, könnte zur Suppe unpassender kaum sein – mea culpa! –, schmeckt für sich genommen jedoch ausgezeichnet. 

Kleiner lesBar-Tipp am Rande: Bestellen Sie im Restaurant keinen Wein, nur weil Sie ihn unbedingt einmal trinken wollen. So zumindest, wenn es Ihnen zusätzlich in der Magenregion grummelt. Seien Sie schlauer als ich und lassen sich einen passenden Wein empfehlen, so zeigen sich beide kulinarischen Genüsse von ihrer besseren Seite. Ende der Durchsage.

Nennen Sie mich altmodisch oder unfähig, aber eine Suppe löffeln, einen Wein süffeln und ein Buch lesen sind mir etwas zu viele Tätigkeiten für die gleichzeitige Ausführung. Was hat also das Nachsehen? Natürlich das Buch. Das wird nicht kalt oder warm, auch nicht verdunsten oder in absehbarer Zeit schimmeln. Wieder zehn Minuten verloren.

Ich sage es Ihnen frei heraus: Mit Ach, Krach, Hängen und Würgen habe ich es geschafft, mich durch das erste Kapitel der ersten Geschichte zu lesen und – sage und schreibe – 25 Seiten (!) zu lesen. 

Was sagt uns das, liebe Gäste? Zeit ist kostbar, zu viel Auswahl ungesund, Lektüre hat immer in der Tasche zu sein und Motivation und Realaktion stehen nicht unbedingt in einem Verhältnis zu einander. 

Meine Empfehlung für Sie: Kommen Sie in die lesBar und machen Sie alles, was ich getan habe, nur tun Sie es nicht gleichzeitig! Gönnen Sie sich ein tolles Gericht in einem Restaurant, das Sie lieben und fokussieren Sie sich auf das Essen und den Service – sie und Sie haben es verdient!

Trinken Sie dann ein Glas 2013er Forster Riesling vom Reichsrat. Beziehungsweise: Trinken Sie irgendeinen Riesling vom Reichsrat. Glauben Sie mir, bei diesem Weingut können Sie nichts falsch machen. Die Rieslinge sind alle Hochkaräter. Und das gilt keinesfalls nur für die Großen Gewächse! 

Die Ersten Lagen sind mindestens ebenso erstklassig im Geschmack wie ihre großen Schwestern. Auch die Orts- und Gutsweine sind durchweg top, egal aus welcher Lage oder welchem Jahrgang sie entspringen. Mir als absolutem Liebhaber gereifter Rieslinge kommt zwar eher 2016 und älter ins Glas, aber die Spritzigkeit, Lebendigkeit und Säurebalance der jüngeren Jahrgänge ist nie unangenehm oder stechend, ganz im Gegenteil.

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Credit: Reichsrat von Buhl

Danach können Sie dann entspannt und konzentriert Dorothy Parkers einmalig unterhaltsamen und gnadenlosen Beobachtungsgabe frönen. Sollten Sie Ihren Streifzug durch die Straßen New Yorks mit ihren einmaligen Charakteren und Typen flüssig unterstützen wollen, greifen Sie nicht zum Wein, Parker verlangt etwas Hochprozentiges!

Seien Sie ganz classy und genießen Sie einen guten alten Manhattan (Bourbon, roter Wermut, Angostura) in einem Martiniglas mit Cocktailkirsche. Wer die schnellere, bodenständigere Variante bevorzugt, nehme Pernod und mische ihn mit Sodawasser. Dorothy Parker wäre so stolz auf Sie, dass sie vielleicht sogar mit Ihnen und nicht nur über Sie sprechen würde.

Ihr

Nick Pulina

PS: Packen Sie ein Buch ein! Los, husch!

PPS: Ab sofort hängt an meiner Wohnungstür eine Checkliste für die Sporttasche.

PPPS: Was war Ihre schlimmste Kein-Buch-Situation? Erzählen Sie sie mir bei Instagram @culinanick!

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