Shylock, Ikone des Antisemitismus

Der für seine Antihelden-Darstellungen bekannte Schauspieler Ernst von Possart als Shylock, etwa um 1904.

„Ein Pfund Fleisch“: Diese Forderung ist der grausame Ruf nach Gerechtigkeit eines Menschen, dem übel mitgespielt wird. Die Figur Shylock erblickte um 1600 im Kaufmann von Venedig das Licht der Shakespeare’schen Bühnenwelt und steht bis heute wie keine zweite für das Schicksal der jüdischen Bevölkerung. Was uns Shylock noch heute zu erzählen hat, davon zeugt das heutige Porträt.

von THOMAS STÖCK

„‚The poor man is wronged!‘ (Dem armen Mann geschieht Unrecht!)“ Mit diesen Worten zitiert Heinrich Heine eine englische Besucherin eines Theaterstücks. Dabei handelt es sich um den Kaufmann von Venedig (Orig.: The Merchant of Venice). Diese Anekdote steht am Anfang von Heinrich Heines Essay über eine Frauenfigur des Stücks, Jessica. Jessica ist die Tochter des Mannes, dem Unrecht angetan wird. Sie ist Shylocks Tochter. Shylock ist ein Wucherer, der dem venezianischen Kaufmann Antonio Geld leiht, damit dieser seinen Freund Bassanio beim Werben um eine junge Adelige namens Portia unterstützen kann. Doch Antonio und Shylock befinden sich seit langer Zeit im Clinch. Ursächlich hierfür ist Antonios beleidigendes Verhalten gegenüber dem Juden, den er bespuckt und verflucht. Shylock leiht Antonio tatsächlich das Geld, jedoch unter der Bedingung, ihm ein Pfund Fleisch aus seinem Körper schneiden zu dürfen, sollte dieser die zu zahlende Summe nicht fristgerecht entrichten können.

Es kommt, wie es kommen muss: Antonios Flotte erleidet Schiffbruch und kann nicht bezahlen. Shylock besteht auf sein Pfund Fleisch. Der venezianische Doge, der zu Gunsten Antonios zu vermitteln sucht, weiß sich nicht zu helfen. Da interveniert Portia, indem sie – als Mann verkleidet – vor Gericht erklärt, Shylock dürfe zwar ein Pfund Fleisch aus Antonio herausschneiden, ihm sei es aber unter Androhung der Todesstrafe verboten, auch nur einen Tropfen Blut eines Christen zu vergießen. Und so muss sich Shylock dem Richterspruch beugen, der ihm das Herausschneiden eines Pfundes Fleisch versagt und das Bestehen auf dem grausamen Tauschhandel bestraft. Shylock bekommt deshalb die „Gnade“ der Christen zu spüren: Er verliert sein Hab und Gut, muss zum Christentum konvertieren und auch seine Tochter wendet sich von ihm ab. Am Ende des Stücks heißt es: „Exit Jew.“

Ein Bekenntnis gegen die Verfolgung

Shakespeares Figur Shylock gibt dem Antisemitismus ein Gesicht. Zum einen deshalb, weil das Zerrbild des Juden als Wucherer genutzt wird, um der Komödie einen dramatischen Verlauf zu geben. Der Jude als Feindbild schlechthin eignet sich wunderbar, um im England des 16. und 17. Jahrhunderts – lange nach der Ausweisung der Juden aus dem Land im Jahr 1290 – einem Antagonisten ein Gesicht zu geben. Zum anderen aber auch deshalb, weil er ebenso den Opfern des Antisemitismus zur Ikone gereicht. Denn Shylock ist nicht nur der Wucherer, der mit seinem Ruf nach einem Pfund Fleisch die Rache der Christenheit heraufbeschwört, er ist auch der Mann, der mit seinem Monolog „Hath not a Jew eyes?“ die Menschlichkeit in seinen christlichen Mitmenschen anruft. Vergebens, wie sich herausstellen wird.

Shylock versinnbildlicht zugleich, dass antisemitische Hetze nicht erst im 19. und 20. Jahrhundert aufkommt und dem in Europa sich etablierenden Nationalismus begründet ist. Nein, der Antisemitismus ist viel älter. Und die Verfolgungen, denen Shylock mit seiner Zwangskonversion ausgesetzt ist, bezeugen dies. Nicht umsonst nehmen nach der Shoah Autoren auf genau diesen Shylock Bezug. In den Zeugenstand möchte ich deshalb an dieser Stelle ein weiteres Werk berufen: Philip Roths Operation Shylock: A Confession (dt. Übersetzung: Operation Shylock. Ein Bekenntnis). Ein Bekenntnis präsentiert uns der jüdisch-amerikanische Altmeister der Verhandlung jüdischer Identität also – ein Bekenntnis zu Shylock? Wieder steht im Mittelpunkt ein Gerichtsprozess: John Demjanjuk wird in Israel angeklagt, als „Iwan der Schreckliche“ Verbrechen im Vernichtungslager Treblinka verübt zu haben. Durch die Operation Justice wird es ermöglicht, dem amerikanischen Staatsbürger Demjanjuk in Israel den Prozess zu machen. Es handelt sich um den zweiten großen Prozess in Israel nach dem Eichmannprozess 1961. Und da besitzt Demjanjuk die Frechheit vor Gericht zu sagen, sein Verfahren ähnele dem in Frankreich abgehaltenen Schauprozess gegen Alfred Dreyfus um das Jahr 1900.

Philip Roths autofiktionale Schrift macht aus dem Wort Gerechtigkeit den Namen Shylock. Jetzt, wo jüdische Gerichte in einem jüdischen Staat antisemitische Taten aburteilen können, kann auch Shylock Gerechtigkeit widerfahren. „One day we will determine justice!“ Eine Gerechtigkeit, die für viele zu spät kommt.

Meine Empfehlungen:

Heinrich Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen (Kapitel zu Jessica)

William Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig. Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. Herausgegeben von Dietrich Klose
Reclam Verlag, 119 Seiten
Preis: 3,60 Euro
ISBN: 978-3-15-000035-9

Philip Roth: Operation Shylock. Ein Bekenntnis. Übersetzung von Jörg Trobitius
Carl Hanser Verlag, 459 Seiten
Preis: antiquarisch erhältlich
ISBN: 978-3-446-17693-5

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