„Wie du, du Rückwärtsgewandte, mit deinem Mutterroman!“

Sylvie Schenk: Maman; Cover: Hanser

Wie schreibt man einen Roman über seine Mutter, wenn man sich bis zum Schluss nicht getraut hat, ihr Fragen zu stellen, die einem schon immer auf der Zunge brannten? Man rekonstruiert die Vergangenheit, verbindet sie mit seinen eigenen Empfindungen und Überlegungen. Man stellt Nachforschungen an und schwelgt in fremden Erinnerungen, die auch in einem selbst stecken. Sylvie Schenk nimmt uns in ihrem Roman Maman mit bei der Rekonstruktion einer Mutterfigur, die ihr ein Leben lang wie ein fremdes Wesen vorkam, eine „Raritätenmutter“.

von CELINA FARKEN

In Maman verfolgt Schenk den Werdegang ihrer Mutter Renée von ihrer Kindheit bis zu ihrem Tod nach. Dazu berichtet sie von ihren Nachforschungen. Diese nutzt sie, um bestimmte Episoden – teilweise durch Fakten belegt, teilweise fiktiv – im Leben ihrer Mutter nachzustellen. Dabei spielen historische und gesellschaftliche Faktoren eine große Rolle, denn neben der Mutterfigur bezieht der Roman die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs mit ein, vor allem seine Auswirkungen in Frankreich und die gesellschaftlichen Gepflogenheiten dieser Zeit.

Renée selbst „schwieg viel. Ich habe nie gewusst, ob sie nachdachte, träumte, sich erinnerte oder Pläne schmiegte.“ Im Gegensatz dazu steht die Erzählfigur, die an Schenk angelehnt ist: „Ich bin da, bin dazwischen, als Künstlerin zwischen den Fronten, als Schreibende. Worte sind flüssiges Leben, sie sickern in die Spalten des Alltags.“ In Maman sickern Schenks Worte in die Lücken der Vergangenheit und stopfen sie – auch wenn einige Löcher bleiben.

Rekonstruierte Vergangenheit mit Eventualitäten

Der Roman nimmt autobiografische Züge an, ist aber auch ein Produkt der Fiktion. Denn dort, wo keine Klarheit herrscht und durch den Tod der Mutter nicht mehr herrschen kann, setzt das Schreiben ein, das Nachdenken, das Errichten einer Möglichkeit basierend auf dem Wissen, das Schenks Nachforschungen erbracht haben: „Ach, was. Schreiben, Bescheißen“, schreibt sie. Sie eröffnet und erforscht Möglichkeiten, wie das Leben ihrer Mutter vor ihrem Kind war, wie sie selbst als Kind war. Es ist, was das Schreiben immer ist, ein Erinnern, ein Zusammenfügen. Der Aufbau des Textes zeigt den Prozess des Erinnerns, er setzt sich aus kurzen Kapiteln zusammen, die unterschiedlich aufgebaut sind. Es gibt Telefonate mit der unliebsamen, tratschenden Cousine, die sich lieber mit Gerüchten als mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzt. Es gibt tagebuchähnliche Einträge, die berichten, wie die Erzählfigur das Chateau ihrer Eltern nach dem Tod ihrer Mutter aufsucht. Es gibt Rückblicke und Erinnerungen, von der Mutter selbst erzählt und welche von der Erzählerin erdichtet –  fiktiv, aber mit einem Kern Wahrheit. So stellt der Roman formal die Rekonstruktion der Vergangenheit der Mutter nach. Er ist teilweise chronologisch, es gibt viele Einschübe, die den Roman spannend machen und die Neugier wecken, wie sich die Kapitel in das Gesamte einfügen. Sie machen den Roman zu einer Sammlung.

Die Erzählfigur selbst spielt dabei eine besondere Rolle, denn es ist zwar autobiografisch, aber die Figur bringt sich oft selbst in Situationen ein, in der sie nicht dabei war (bei der Geburt Renées beispielsweise). Das stellt transparent dar, wie die Erzählung konzipiert ist, denn es gibt nicht die eine Wahrheit. Aber darum geht es auch nicht. Es geht um Verständnis, das sich von Kapitel zu Kapitel aufbaut. Es ist eine Annäherung an die Mutter und an sich selbst.

Von Generation zu Generation

„Mamans Geburtsname war Renée Gagnieux, dieser Name steckt in mir“, denn es geht nicht nur um Maman, es geht um ihre Töchter. Aber nicht nur um die, es geht um Renées leibliche Mutter, deren Mutter und Renées Adoptivmutter. Es geht um Mütter und Töchter, die sich generationsübergreifend beeinflussen und es geht darum, dass vieles verborgen bleibt: „In meiner Mutter selbst rumorte ihre unbekannte Mutter, Cécile Gagnieux, die sie verdrängt, verschluckt und nie verdaut hat.“ Und bei der die Suche nach der Identität – nein, dem Wesen der Mutter und damit auch ein Teil des Wesens der Erzählfigur selbst – beginnt. Der Roman schließt mit dieser Annahme, denn Cécile steht allein bei ihrer Geburt da, auch die letzten Kapitel handeln von Schenks Schwestern, die ebenfalls allein mit ihrer Schwangerschaft dastehen. Maman ist der Versuch, generationsübergreifend die Mutterfigur zu befreien und „Maman aus dem Nichts retten“.

Sylvie Schenk: Maman

Carl Hanser Verlag, 176 Seiten

Preis: 22,00 Euro

ISBN: 978-3446276239

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