Ein amerikanisches Heimspiel in Essen

Leonard Bernstein Foto: Jack Mitchell

Leonard Bernstein Foto: Jack Mitchell

Die Philharmonie Essen hat im Rahmen seiner Konzertreihe Leonard Bernstein zum 100. Geburtstag Grammy-Preisträgerin Hilary Hahn zusammen mit der Houston Symphony eingeladen, sich vor einem der wichtigsten Komponisten des vergangenen Jahrhunderts zu verneigen. Der kolumbianische Dirigent Andrés Orozco-Estrada präsentiert ein Programm, das neben Bernsteins sicher größtem Hit auch ein unbekannteres Werk aus dem Œuvre des Ausnahmemusikers beinhaltet. Abgerundet wird der Abend durch Antonín Dvořáks siebte Sinfonie. Während Beginn und Finale des Konzertabends voll und ganz überzeugen, ist ausgerechnet der Auftritt der berühmten Solistin weniger bemerkenswert.

von STEFAN KLEIN

Am 25. August 2018 jährt sich Leonard Bernsteins Geburtstag zum 100. Mal. Während viele vor allem die West Side Story mit ihm in Verbindung bringen würden, war der Sohn ukrainischer Einwanderer sehr viel mehr als der Komponist eines der wichtigsten und beliebtesten Musicals aller Zeiten. Neben der Komposition von Musicals, Symphonien, Konzerten und Balletten dirigierte Bernstein fast alle führenden Orchester dieser Welt und nahm es sich zur Aufgabe, klassische Musik dem großen – und kleinen – Publikum näherzubringen. So führte er beispielsweise über vierzehn Jahre hinweg im amerikanischen Fernsehen durch die Young People´s Concerts, wo er Kinder und Jugendliche die Geheimnisse der Musik näherbrachte.

Große Emotionen, komprimiert in einer Ouvertüre

Trotz ihrer langen Anreise aus dem fernen Texas ist es eigentlich ein Heimspiel für die Houston Symphony, denn mit Bernsteins Prologue zur West Side Story und seiner Serenade stehen zwei sehr amerikanische Werke auf dem Programm. Während sich deutsche Musikliebhaber noch immer über die strikte Trennung von E- und U-Musik streiten, ist man in Amerika, nicht zuletzt dank Bernstein, darüber hinweg und erfreut sich auch bei großen und renommierten Orchestern an „unterhaltsamer“ Musik.

Diese Selbstverständlichkeit, mit der die Houstoner an Bernsteins Musical-Melodien gehen, ist es, die das Eröffnungsstück zu etwas Besonderem macht. Die West Side Story wurde seit ihrer Uraufführung 1959 unzählige Male aufgeführt und eingespielt. Dennoch findet Dirigent Andrés Orozco-Estrada Facetten, die man so wahrscheinlich noch nicht gehört hat. Seine Art und Weise, mit der Dynamik zu spielen, verleiht dem fast sechzigjährigen Stück eine Frische und Modernität, wie man sie von der West Side Story schon gar nicht mehr gewohnt war. Der Prologue, der bereits viele Melodien aus dem Musical enthält, bedient sich fast der gesamten Emotionspalette der tragischen Liebesgeschichte zwischen Tony und Maria. Orozco-Estradas südamerikanisches Temperament kitzelt aus den Houstonern heiße Latinorhythmen, mitreißende Jazzklänge und romantische Streicherpartien heraus. Vor allem der Somewhere-Teil kommt mit einer großen emotionalen Wucht daher und verursacht Gänsehaut und feuchte Augen.

Eine abwesende Stargeigerin

Nach einer kurzen Umbaupause darf dann auch Hilary Hahn auf die Bühne. Für die junge Geigerin ist Bernsteins Serenade nach eigener Aussage ein sehr besonderes Stück, war es doch Teil ihrer ersten CD-Einspielung. Seit der Veröffentlichung 1999 hat die inzwischen 38-jährige Amerikanerin die Serenade sicher sehr oft gespielt. Diese Routine ist ihr in der Essener Philharmonie deutlich anzumerken. Technisch brillant, doch seltsam abwesend spielt sich die hochschwangere Hahn durch das anspruchsvolle Konzert.

In den fünf Sätzen beschreibt Bernstein ein Gespräch verschiedener Philosophen über die Liebe, inspiriert durch Platons Symposion. Durch die Besetzung mit Solovioline, Streichern, Harfe und Schlagzeug entwickelt sich ein spannender Klang, der jedoch nicht bei jedem im Publikum gut anzukommen scheint. Während der erste Satz noch Melodien und Harmonien enthält, die Bernsteins verspielte und eingängige Art zu komponieren widerspiegeln, finden die folgenden Sätze eher schwierig ihren Weg in die Ohren. Erst der beinah jazzige fünfte Satz führt Bernsteins Serenade zu einem „versöhnlichen“ Ende.

Nach Dvořák auch noch Prokofjew

Antonín Dvořáks siebte Sinfonie in d-Moll gehört nicht unbedingt zu seinen meistgespielten Werken. In einer sehr kurzweiligen und charmanten Einführung vor dem Konzert erklärt Dirigent Orozco-Estrada, wie Dvořáks Freund Johannes Brahms starken Einfluss auf die Komposition nahm, und führt mit dem gesamten Orchester vor, woran man die Einflüsse des deutschen Romantikers erkennen könne. In den stillen Momenten der Sinfonie sind es vor allem Houstons Streicher, die Ähnlichkeiten zum Komponisten-Freund Dvořáks herausbringen. Ihr emotionales Spiel versetzt den Zuhörer in wohliges Schwelgen, bis Dvořáks slawisches Temperament hervorbricht und in fast tänzerischen, doch immer auch leicht bedrohlichen Passagen das Publikum in eine ganz andere Richtung zieht.

Andrés Orozco-Estrada hat das rund achtzigköpfige Orchester zu jeder Zeit voll im Griff und füllt die ausgezeichnete Akustik der Essener Philharmonie mit einem vollen und satten Klang, für den dieses Haus gebaut zu sein scheint. Am Ende überrascht der Kolumbianer, der in Wien studierte und seit 2014 Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters ist, mit einer Zugabe, die man anfangs für ein weiteres Werk Bernsteins hätte halten können. Doch schnell ist klar: Es ist ein Stück aus Prokofjews Romeo und Julia, das mit seiner Schmissigkeit und Impulsivität den Kreis zur jazzigen West Side Story vom Beginn des Konzertes ideal schließt.

Auch wenn vor allem das Violinkonzert nicht so leicht ins Ohr geht wie seine populären Musicalkompositionen, so verlässt man nach einem solchen Konzert doch den Saal mit dem Wunsch, dass Leonard Bernstein im kommenden Jahr noch mal 100 Jahre alt wird.

 

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