Epische Liebeserklärung ans Heldentum

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos; Cover: Matthes & Seitz Berlin

Annette, ein Heldinnenepos ist eine in Versen verfasste Biografie der Freiheitskämpferin Anne Beaumanoir. Anne Weber zeigt offen ihre Bewunderung für die Protagonistin, deren real existierendes Vorbild sie als lebendige Heldin verehrt, ohne ihre menschlichen Schwächen auszublenden. Das hat ihr jüngst den Deutschen Buchpreis eingehandelt.

von STEFAN JAKOB

Anne Webers Heldinnenepos basiert auf der bewegten Lebensgeschichte von Anne Beaumanoir, die 1923 in einem bretonischen Fischerdorf aufwächst und sich als junge Frau in der kommunistischen Résistance gegen die nationalsozialistische Besatzung betätigt. Zum Ärger der kommunistischen Partei handelt sie jedoch auch auf eigene Faust, etwa indem sie jüdische Kinder vor einer bevorstehenden Razzia rettet (was ihr schließlich auch den Titel „Gerechte unter den Völkern“ der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem einbrachte). Anschließend beginnt sie eine Karriere als Neurologin und gründet eine Familie – nur um bald darauf zu der Erkenntnis zu gelangen, dass ihr eigenes Land nun als Aggressor und Unterdrücker auftritt. Auslöser ist der algerische Unabhängigkeitskrieg, von französischer Seite schlicht als „Ereignisse“ runtergespielt. Prompt opfert sie ihr persönliches Glück und unterstützt tatkräftig durch Botengänge die algerische Nationale Befreiungsfront. Nun gilt sie der Kolonialmacht Frankreich als Terroristin. Auf der Flucht vor der französischen Justiz findet sie zunächst eine neue Heimat in Algerien, nur um sie schon kurz nach der gewonnenen Unabhängigkeit durch einen Putsch zu verlieren.

Erhabene Sprache ohne Überheblichkeit

In der Person der Anne Beaumanoir treffen gegensätzliche Welten aufeinander: Sie ist Intellektuelle aus armem Elternhaus idealistische Kommunistin, angesehene Professorin, Mutter und Liebende. Dies macht sie zu einer mehrdimensionalen Persönlichkeit. Um diese spannende Lebensgeschichte zu würdigen, knüpft Anne Weber an die antike Tradition des Heldenepos an. Diese lyrische Langform diente dazu, den exemplarischen Lebenswandel einer herausragenden historischen oder mythischen Figur im kulturellen Gedächtnis zu verankern. Wer lieber Prosa als Lyrik liest, wird von Annette jedoch nicht enttäuscht. Die Offenheit freier Verse ermöglicht es der Autorin ein Kunstwerk zu schaffen, das rhythmisch fließt und trotz gelegentlich eingestreuter Stilmittel den Boden der Alltagssprache nicht verlässt. Vielmehr wird deutlich der Ton einer persönlichen Erzählinstanz inszeniert, die das Geschehen schildert, vorausgreift, wertet und kommentiert – etwa wenn sie im Gedenken an Beaumanoirs ermordeten Partner Schweigen fordert und die Erzählung für einen Absatz aussetzt.

Was macht eine zeitgenössische Heldin aus?

Anne Weber macht deutlich, dass sie Anne Beaumanoir als Fleisch gewordene Heldin verehrt, ohne sie zu einer Heiligen zu verklären. Ihr Heldentum zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie es schafft, den Lauf der historischen Ereignisse entscheidend zu beeinflussen – wie dies die klassischen Helden gelingt. Vielmehr geht es Weber um die Art, wie Beaumanoir in schwierigen Situationen Entscheidungen trifft, die ihr einiges abverlangen und mehr als einmal die Wahl zwischen verschiedenen Übeln darstellen. Weber macht es mit einer großen Portion Feingefühl möglich, die Prinzipien nachzuvollziehen, denen ihre Beaumanoir auch von größten Zweifeln geplagt stets treu bleibt. Dabei lässt sie ihre Leserschaft bei den schmerzvollsten Opfern mitfühlen als auch in vielen brenzligen Lagen Spannung spüren.

Hier geht es jedoch weder um eine Hagiografie noch um eine Heldin als strahlende, amazonische Lichtgestalt. Der Heldenbegriff erfährt eine Aktualisierung in dieser exemplarischen Protagonistin, die es schafft, Zweifel, Gefühl und Standhaftigkeit in einer Person zu vereinen. Sie überwindet nicht ihre Feinde durch überlegene Stärke, Gewalt und Macht, sondern beweist auch im Scheitern die Beharrlichkeit ihres ungebrochenen Idealismus.

Forderung nach Haltung

Anne Webers Heldinnenepos ist somit nicht nur ein poetisches, sondern auch ein politisches Werk. Er zeichnet in biografischen Umrissen nach, wie sich freiheitsliebende Wertschätzung des Individuums mit gesellschaftlichem Engagement vereinen lässt, ja, sie sich sogar gegenseitig bedingen. Annette ist sowohl ein Lobgesang auf den couragierten Ungehorsam als auch eine Warnung vor unkritischem Schwarz-Weiß-Denken, das Demagogen in die Hände spielt und die Fehler der eigenen Seite übersehen lässt.

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos
Matthes & Seitz Berlin, 208 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-95757-845-7

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