Wo geht’s hier zur Mitmach-Revolution?

Hannes Köhler: Götterfunken; Cover: Ullstein

In seinem Anfang August erschienenen Roman Götterfunken erzählt Hannes Köhler die ineinander verflochtenen Geschichten dreier Männer, die in ihren Zwanzigern gemeinsam einen anarchistischen Anschlag in Barcelona geplant und verübt haben. In den späten 2010ern ist von diesem revolutionären Eifer jedoch nur noch eine schemenhafte Grundeinstellung vorhanden und auch ihre Beziehungen untereinander sind so lebendig wie die anarchistische Weltrevolution. Ein wunderbar recherchierter, konstruierter und geschriebener Roman über das Älterwerden von Körpern, Beziehungen und philosophisch-politischen Idealen.

von CAROLIN KAISER

Manche historische Gegebenheiten der letzten 50 Jahren sind einem deutlich präsenter als andere: Vietnamkrieg? Klar doch! Zerfall der Sowjetunion? Was für eine Frage! Spanien war bis in die 1970er hinein eine faschistische Führerdiktatur? …Ja, das hab‘ ich mal irgendwo gelesen. Gerade in Deutschland ist es leicht zu vergessen, dass der Faschismus in Europa nicht mit dem 8. Mai 1945 in die Geschichtsbücher verschwunden ist, sondern in Spanien unter Francisco Franco noch dreißig Jahre den Kopf über Wasser halten konnte. In seinem dritten Roman legt der Autor und Übersetzer Hannes Köhler genau auf dieses oft übersehene Kapitel des europäischen Faschismus seinen Fokus – genauer: auf den anarchistischen Widerstand gegen das Franco-Regime in den letzten anderthalb Jahren vor dem Tod Francos im Dezember 1975.      

Vom Anarcho-Revoluzzer zum alten, weißen Mann

Dreh- und Angelpunkt der Romanhandlung – die sich über bescheidene 43 Jahre erstreckt – ist eine Gruppe junger Barceloner Anarchistinnen und Anarchisten Anfang der 1970er, die ihren Beitrag zum Sturz des Faschismus und zum Aufbau der klassenlosen Gesellschaft geben möchten, indem sie Anschläge auf gehobene Geschäfte verüben. Zu der Gruppe dieser jungen Spanierinnen und Spanier stoßen zwei tatbegeisterte Revolutionstouristen aus dem langweilig demokratisch-kapitalistischen Norden: der Franzose Germain und der Deutsche Jürgen. Zusammen mit dem Spanier Toni bilden sie das Protagonisten-Triumvirat des Romans. Ergänzt wird dieses durch Tonis langjährige Lebenspartnerin und Mitanarchistin Mireia, Germains Ehefrau Catherine sowie Jürgens Ehefrau Charlotte und seinen Sohn Jonas noch um vier wichtige Figuren und Blickwinkel erweitert wird. Die Handlung wird nämlich nicht aus einer, sondern aus gleich sechs (bzw. sieben mit Prolog und Epilog) Erzählperspektiven geschildert. Als wäre das nicht schon anspruchsvoll genug, springt die Handlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. So erfahren die Lesenden zeitgleich vom naiv-revolutionären Eifer der Jugendjahre und dem spöttisch-wehmütigen Blick der Fast-schon-Rentner-Jahre auf eben diese vergangene Epoche der Lebensgeschichten der Protagonisten. Während sich die – weitestgehend anachronisch präsentierte – Handlung in der Vergangenheit hauptsächlich um die Planung, Durchführung und die direkten Nachwirkungen der bereits erwähnten Anschläge dreht, beleuchtet die im Jahr 2017 angelegte Gegenwartshandlung die Diskrepanz zwischen den früheren anti-kapitalistischen und anti-elitären Idealen und den wohlsituierten Leben, die sich die auch körperlich stark gealterten Ex-Revoluzzer in den letzten 40 Jahren aufgebaut haben: Toni besitzt einen schicken Weinladen in Barcelona, wo er hippen Touristen teuren, selbstgebrannten Wermut verkauft, Jürgen hat eine IT-Sicherheitsfirma gegründet, die die Banken und Großunternehmen in Frankfurt am Main vor Cyberangriffen schützt, und Germain hat es sogar bis in die Hallen der Pariser Elite geschafft – Einladung zum Diner mit Monsieur le Président inklusive. Aufrechterhalten wird die Spannung des Romans allerdings in erster Linie durch die Figur Jürgens. Dieser wird nämlich von Toni verdächtigt, die Gruppe 1974 an die spanische Polizei verpfiffen zu haben.            

Jürgen, der Verräter oder Toni, der Verschwörungsgläubige?

Der Aufbau des Romans unterstreicht dabei gekonnt das Unnahbar-Mysteriöse, das Jürgen durch Tonis Verdacht ohnehin schon anhaftet. Die sechs Erzählstränge des Romans haben jeder eine eigene Point-of-View-Figur, außerdem sind zwei der Stränge jeweils einer der drei Hauptfiguren gewidmet. Während man in der ersten Hälfte des Romans Germain durch die Perspektive seiner Ehefrau Catherine und Toni durch seine eigene kennenlernt, erfahren die Lesenden von Jürgen durch den Blickwinkel seines von ihm entfremdeten Sohnes Jonas, der seinen Vater genauso wenig versteht wie er ihn leiden kann. Jürgen ist auch die einzige der drei Hauptfiguren, die nie die Point-of-View-Figur einer ihrer zwei Erzählstränge ist. Ob Tonis – stellenweise obsessiver – Verdacht, Jürgen sei ein Verräter, der Wahrheit entspricht, wird somit für die Lesenden schwierig einzuschätzen. So wenig wie Toni und Jonas, aber auch Germain, Jürgen einschätzen können, können es die Lesenden. Die wenigen und wohl platzierten Informationen, die man über Jürgens Persönlichkeit, Wünsche, Vorstellungen und mögliche Verratsmotive erfährt, fügen sich im Verlauf des Romans zu der Außen-, am Ende sogar Innenansicht einer zwiegespaltenen Person zusammen. Einer Person, die ihre eigenen Jugendideale nie wissentlich abgelegt hat und sich trotzdem über die Jahrzehnte immer weiter von ihnen wegentwickelt hat – eine Biographie, die Jürgen mit seinen beiden früheren Freunden und Revolutionsgenossen Toni und Germain trotz der vier Jahrzehnte andauernden Funkstille teilt.

Bitte weniger Fremdsprachschnipsel, por favor!

Die große Stärke des Romans ist die Sorgfalt, mit der er recherchiert, geplant, geschrieben und lektoriert wurde. Trotz der regelmäßig wechselnden Zeitebenen und Handlungsstränge, entsteht für die Lesenden ein kohärentes Bild der Figuren und ihrer Leben. Die Spannung wird durch die anachronische Erzählweise verstärkt, ohne dass Verwirrung durch Kontinuitätswidersprüche auftreten. Anders ausgedrückt: Hier hat jemand sein Handwerkszeug ordentlich gelernt und angewandt. Auch die Figuren zeugen von der Qualität des Romans, selbst wenn nicht alle gleichermaßen einprägsam sind. Tonis Freundin Mireia etwa, die sich als Proto-Feministin in der männlichen Barceloner Journalistenszene der späten 70er-Jahre durchboxt, und Jürgens Sohn Jonas, der den Tod seiner Ehefrau und großen Liebe verarbeitet, werden vielen nach dem Lesen vermutlich länger im Gedächtnis bleiben als der eher blasse Germain oder Jürgens Ehefrau Charlotte, die erst auf den letzten 100 Seiten eine Art Persönlichkeit bekommt. Ein weiterer kleiner Kritikpunkt: Fremdsprachschnipsel. Der Roman spielt in Spanien, Frankreich, Deutschland und Dänemark. Das hat zur Folge, dass der Roman versucht, Dialoge „realistischer“ wirken zu lassen, indem zum Beispiel Figuren, wenn sie Spanisch miteinander reden, „por favor“ anstatt „bitte“ sagen, selbst wenn aus dem Kontext mehr als deutlich wird, dass gerade Spanisch gesprochen wird. An sich ist die Verwendung solcher Fremdspracheinstreuer natürlich kein Merkmal schlechten Schreibens. Tatsächlich hat der Roman selbst eine Handvoll Stellen, an denen ihre Verwendung Sinn macht und obendrein noch etwas über die Figuren aussagt, allerdings überwiegen die Stellen an denen sie möchtegern-mondän wirken. Warum schreien die spanischen Gefängniswärter erst auf Spanisch und dann auf Deutsch (obwohl sie offensichtlich eigentlich immer noch Spanisch sprechen)? Warum arbeitet Jonas dänische Ehefrau in einer „musikskole“ und nicht in einer „Musikschule“, aber fährt „Fahrrad“ anstatt „cykel“? Man weiß es nicht. Letztlich stößt hier vermutlich einfach das Medium des geschriebenen Wortes an seine (sprachlichen) Grenzen: Filme können mit Untertiteln arbeiten, Mehrsprachigkeit in Romanen realistisch und für alle zufriedenstellend darzustellen ist deutlich schwieriger. Köhler wählt einen Lösungsversuch für dieses Problem, der sich zumindest für mich etwas zu sehr nach Spanisch-A1-Kurs anfühlt. En meget god roman hat er trotzdem geschrieben.

Hannes Köhler: Götterfunken

Ullstein, 368 Seiten

Preis: 24,00 Euro

ISBN: 9783550050473

Hinterlasse einen Kommentar