Glauben nach der Katastrophe?

Margarete Susman: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes; Cover: Suhrkamp

Der Shoah sind in Europa über sechs Millionen Juden zum Opfer gefallen, beinahe wäre das jüdische Volk vollkommen vernichtet worden. Wie kann man angesichts einer solchen Katastrophe noch an Gott glauben? Margarete Susman stellt sich in ihrem 1946 erschienenen Essay Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes diese Frage und erzählt uns von ebendiesem Schicksal. Doch findet Susman auch in der Jubiläumsausgabe zu ihrem 150. Geburtstag lediglich Antworten, die nicht zu überzeugen vermögen.

von THOMAS STÖCK

Das Buch Hiob zählt zu den bekanntesten Geschichten der Bibel, vielleicht nur hinter der Schöpfungsgeschichte und der Passion Christi. Im biblischen Mythos wird Hiob zum Spielball einer Wette zwischen Gott und Satan. Hiob sei nur deshalb Gottes ehrfürchtigster Anhänger, weil er alles im Leben habe, so behauptet es der Teufel. Er schlägt Gott vor, dass dieser Hiob auf die Probe stellt, indem er ihm nach und nach alles nimmt: Hab und Gut, Gesundheit, Frau und Kinder. Hiob wird aus der Gemeinschaft verstoßen und muss mitansehen, wie alles, was er liebt, ihm genommen wird. Dabei hat Hiob keine Schuld auf sich geladen, die den rachsüchtigen Gott des Alten Testaments bzw. des Tanach (der jüdischen Bibel) dazu verleiten würde, ihn zu strafen.

Hiob wird also bestraft, obwohl er persönlich unschuldig ist. Das Leitmotiv des Buchs Hiob ist folglich, warum Menschen Unglück widerfährt, obwohl diese ein gottesfürchtiges Leben führen. Am Grunde des Mythos um Hiob liegt also die Frage der Theodizee: Warum lässt ein allmächtiges, allwissendes und gutes Wesen das Leid überhaupt zu? Das Ereignis, das wie kein zweites diese biblische Frage erneut heraufbeschworen hat, ist die Shoah bzw. der Holocaust. Der Versuch der vollständigen Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten löschte mehr als sechs Millionen Leben der jüdischen Bürger Europas aus. Für Margarete Susman wurde das Buch Hiob zum Ausgangspunkt ihrer Auseinandersetzung mit der Frage, wie man nach der Katastrophe überhaupt noch an Gott glauben kann.

„Um der Vollkommenheit des Gesetzes und um des Versagens vor dem Gesetz willen“

Mit den Worten Franz Kafkas beschreibt Susman in ihrem Essay Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, warum die Erzählung von Hiobs Leben uns auch heute noch bewegt, fasziniert und zur Reflexion anregt: „Hier und da hören wir ein andeutendes Wort und möchten fast aufspringen, fühlten wir nicht die Last der Jahrhunderte auf uns.“ Doch ist über diese Erzählung dann nicht schon alles gesagt, wenn bereits mehrere Jahrtausende der Beschäftigung mit dem immergleichen Erzählstoff vergangen sind? Für Susman liegt der Reiz in dieser Beschäftigung gerade darin, den Diskurs immer und immer wieder zu aktualisieren:

„Aber weil sie [die Menschheit] nur dieses eine einzige, immer und überall gleichklingende Wort gefunden hat, darum wird es im Lauf der Jahrtausende eintönig und leer. Immer bedarf es, um diesen Namen zu erfüllen, einer Anstrengung des ganzen Lebens […].“

Der Name Hiob steht stellvertretend für die Shoah. Er steht aber auch stellvertretend für das Leid und die Verfolgung, die das jüdische Volk im Laufe seiner Geschichte ereilt haben. Antijüdische Pogrome gab es bereits in der Antike, viele Motive des Antijudaismus sowie des Antisemitismus stammen aus diesen Zeiten: die Brunnenvergiftung, die Ritualmorde an Kindern etc. pp.

Die Schuld der Unschuldigen

Durch den Versuch, diese jahrtausendelange Leidenszeit zu ergründen, gelangt sie bis zur Erbsünde – gemeint sind jedoch nicht Adam und Eva, sondern die Annahme des göttlichen Gesetzes durch das jüdische Volk:

„Hier, an der Annahme des Gesetzes setzt, fernab vom Bewußtsein der Menschen, alle Feindschaft gegen Israel ein. Um der Vollkommenheit des Gesetzes und um des Versagens vor dem Gesetz Willen wird das jüdische Volk erbarmungslos von den Völkern verfolgt.“

Das jüdische Volk, von dem sie immer wieder spricht, das laut Susman aber bereits zu ihren Lebzeiten als solches nicht mehr existent sei, ist das Volk, welches das Königreich Israel bevölkerte und welches nach der ersten Tempelzerstörung ins Exil gehen musste. Weil das jüdische Volk in diesem historischen Moment nicht das göttliche Gesetz eingehalten habe, sei es mit der Verachtung der übrigen Völker gestraft worden.

Was das Volk im Großen trifft, trifft auch im Kleinen den Einzelnen: Wie Hiob ist eine große Zahl an Juden persönlich unschuldig, doch zugleich sind sie alle allgemein schuldig:

„Nicht an den Schuldigen hatte Gott den Satan ausgesandt. Für den Schuldigen bedeutet Gottes Zorn Gerechtigkeit; für den Schuldlosen bedeutet er reines Entsetzen, das Eingreifen einer fremden feindlichen Macht, das vollkommene Irrewerden an der göttlichen Gerechtigkeit selbst.“

Das Schicksal des jüdischen Volkes – das ja schon gar kein jüdisches Volk mehr sei, wie sie mehrfach feststellt – besteht laut Susman im ungerechten Leiden, das auf den Verfehlungen vergangener Jahrtausende fußt. Zugleich besteht ihr Schicksal daraus, weiter an Gott zu glauben. Susmans Schrift ist eine Rechtfertigung des jüdischen Glaubens trotz allem. Außerhalb der jüdischen Religionsgemeinschaft wissen diese Argumente jedoch nicht zu verfangen.

Erhellend und die alte Leier spielend: Nachwort

Gegenüber älteren Ausgaben hebt sich der vorliegende Essay vor allen Dingen durch Elisa Klaphecks Nachwort ab. Die Berliner Rabbinerin stellt auf überzeugende Weise den Entstehungskontext des Essays dar. Dafür rekurriert sie auf Susmans gesamtes Œuvre, in dem bereits 1929 in einem Kafka-Essay die Hiob’sche Frage gestellt wird. Auch zeichnet Klapheck eindrucksvoll die Diskussion um Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes in der jüdischen Öffentlichkeit nach. Besonders hervorsticht Gershom Scholems Kritik an der Deutsch-Jüdin, da Susman in ihrem Essay auch viele Beziehungen zum christlichen religiösen Kosmos eröffnet. Scholem behauptete, Susman werde es „‚nie gelingen, jüdische und christliche Metaphysik zu vereinen‘“. Doch dies sei nie ihr Ziel gewesen, stattdessen habe sie lediglich die Beziehungen beider Religionen aufzeigen wollen.

An diesen Stellen zeigt sich die erhellende Wirkung von Klaphecks Darstellung, die jedoch dieselben Schwächen aufweist, die sich schon in Susmans Text zeigen. Die Platte hängt, die Leier spielt von vorn: Wer glaubt, für den mag der Essay eine befriedigende Auseinandersetzung mit der Theodizee bieten. In anderen Fällen lässt sich Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes jedoch lediglich als Zeitzeugendokument lesen, in dem das „immer und überall gleichklingende Wort […] eintönig und leer“ wird.

Margarete Susman: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. Mit einem Nachwort von Elisa Klapheck
Jüdischer Verlag, 191 Seiten
Preis: 24,00 Euro
ISBN: 978-3-633-54317-5

Hinterlasse einen Kommentar